Erdbeben in Afghanistan «Die Lage ist katastrophal» – die Taliban sind unfähig, den Opfern zu helfen
Nach den schweren Erdbeben versprechen die Islamisten den Wiederaufbau. Doch es fehlt an Lebensmitteln, medizinischer Versorgung und Räumfahrzeugen.
Die Wände sind bereits rissig. Und die Familie Azimi befürchtet, dass es dabei nicht bleiben, dass ihr Haus bald ganz einstürzen wird. Wie Tausende andere Menschen hat sie den Ort der Katastrophe verlassen, ist in die Provinzhauptstadt geflohen, wo sie nun unter freiem Himmel campiert. Von dort schickt sie Textnachrichten, die nach Verzweiflung klingen: «Es gibt noch keine Hilfe, keine Nahrung, keine gesundheitliche Notversorgung.»
Die Azimis kommen aus dem Ingil-Distrikt in der westafghanischen Provinz Herat. Dort hat das Erdbeben am Samstag besonders verheerende Schäden angerichtet – und zahlreiche Menschenleben gefordert. Neunmal wackelte die Erde. Noch immer ist die Sorge vor weiteren Nachbeben allgegenwärtig.
Tausende Tote
Die beiden schwersten der neun Beben hatten laut der US-Erdbebenwarte USGS eine Stärke von 6,3. Laut dem afghanischen Nachrichtensender Tolonews kamen bisher mindestens 2400 Menschen ums Leben, das UNO-Nothilfebüro OCHA sprach von mehr als 1000 Toten. Die Taliban-Regierung hatte zunächst auch von mehr als 2000 Toten gesprochen, korrigierte diese Angabe aber später; sie hätten auch Verletzte mit in diese Zahl einbezogen, teilten die Islamisten mit. Inoffizielle Quellen sprachen am Dienstag von bis zu 5000 Toten, aber verifizieren liess sich diese Zahl nicht.
Dass Afghanistan seit zwei Jahren von den Taliban regiert wird, macht die Koordination der Hilfsmassnahmen nicht einfacher, auch ist im Ausland die Bereitschaft gesunken, dem Land zu helfen. Vertreter der Europäischen Union teilten am Dienstag in Brüssel mit, die EU werde 3,5 Millionen Euro humanitäre Hilfe für die Erdbebenopfer in Afghanistan bereitstellen. Damit sollen zunächst die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung gedeckt werden. Die internationale Gemeinschaft hat das Regime in Kabul diplomatisch weitgehend isoliert, weil die Taliban nicht bereit sind, Mindeststandards im Bereich der Menschenrechte einzuhalten.
Mit blossen Händen statt mit Baggern
Derweil schwinden die Hoffnungen, drei Tage nach den Beben noch Überlebende zu finden. Mit blossen Händen und Schaufeln versuchten die Menschen im Katastrophengebiet, Trümmer zu beseitigen. Schweres Gerät und Räumfahrzeuge gibt es viel zu wenige, die Taliban-Regierung in Kabul ist nicht auf ein Desaster dieser Art vorbereitet. Das Regime versprach den Opfern am Dienstag trotzdem einen Wiederaufbau ihrer zerstörten Region. Ob es das wird einhalten können, ist mehr als zweifelhaft.
Eine Helferin aus Herat, die aus Sorge vor Repressalien durch das Taliban-Regime darum bittet, namentlich nicht genannt zu werden, schickt eine längere Sprachnachricht. Ihre Stimme bebt, sie ist um Fassung bemüht, muss aber immer wieder neu ansetzen. Das Leid sei grenzenlos, sagt die Frau, die seit der Machtübernahme der Taliban nach eigener Auskunft nur noch von zu Hause arbeiten darf. «Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft und der Regierung reicht absolut nicht aus, die Lage ist katastrophal», sagt sie. Kindern, die ihre Mütter in dem Erdbeben verloren hätten, fehle es an Essen und Milch, für alle Überlebenden, die ihre Behausungen verloren hätten, sei die humanitäre Lage katastrophal.
Fehler gefunden?Jetzt melden.