Streit um Asylpraxis«Die Frauen in Afghanistan haben alle Rechte verloren»
Soll die Schweiz Afghaninnen Asyl gewähren? Darüber entscheidet bald das Parlament. Die geflüchtete Juristin Shabnam Simia sagt, was geschieht, wenn es Nein sagt.
«Bei jedem Klopfen an der Tür dachten wir, es seien die Taliban.» Shabnam Simia sitzt am Esstisch in ihrer Wohnung in Winterthur und schildert, wie sie und ihr Ehemann im Sommer 2021 die Tage nach der Machtübernahme der Taliban erlebten.
Das Paar wollte schon vorher flüchten, als die Taliban immer weiter Richtung Kabul vorrückten. Der erste Versuch scheitert. Zehn Tage nach der Machtübernahme der Taliban versuchen sie es erneut. Mithilfe von Freunden überqueren sie die inzwischen geschlossene Grenze zu Pakistan. Diesmal klappt es. Die beiden erhalten auf der Schweizer Botschaft in Islamabad ein Visum.
Die Umstände der Flucht sorgen für Schlagzeilen: Involviert ist die PEN-Vereinigung, die sich für verfolgte Autorinnen und Autoren einsetzt. Shabnam Simias Ehemann ist Journalist. Verfolgung droht aber auch seiner Frau: Die 37-jährige Juristin war vor der Machtübernahme der Taliban Staatsanwältin bei der Generalstaatsanwaltschaft und Expertin für terroristische Straftaten. Sie ermittelte gegen die Taliban.
Die Schweizer Behörden anerkennen, dass Shabnam Simia und ihr Ehemann politisch verfolgt sind: Sie erhalten Asyl, noch bevor das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Sommer 2023 die Praxis für Afghaninnen ändert. Seit dieser Praxisänderung bekommen die meisten Frauen aus Afghanistan Asyl statt nur einer vorläufigen Aufnahme – auch jene, die nicht Staatsanwältinnen oder Journalistinnen sind.
Nun fordert die SVP mit Vorstössen im National- und Ständerat, dass der Bundesrat dies rückgängig macht. Die neue Praxis könnte eine Sogwirkung auslösen, argumentiert sie. Und sie untergrabe «die Bemühungen Europas, die Asylkrise endlich in den Griff zu bekommen». Die FDP hat die Praxisänderung ebenfalls kritisiert. Aus der Mitte-Partei gibt es vor allem Kritik daran, wie das SEM die Sache handhabte. Man bezweifelt, dass eine formelle Praxisänderung nötig war.
Gefängnis, Folter, Tod
Shabnam Simia erstaunt diese Diskussion. «Zweifeln die Leute im Parlament daran, dass afghanische Frauen einen Fluchtgrund haben?», fragt sie. Bevor sie Staatsanwältin wurde, arbeitete Simia in Kabul an einem Gesetz gegen Diskriminierung und Gewalt an Frauen mit. Es ist inzwischen hinfällig.
«Die Frauen in Afghanistan haben alle Rechte verloren», sagt Simia. Sie hat Freundinnen in Afghanistan, die heimlich junge Frauen unterrichten, weil diese von den Taliban von den höheren Schulen ausgeschlossen wurden. Frauen dürfen nicht arbeiten. Sie dürfen keine öffentlichen Orte aufsuchen. Sie haben kaum Zugang zur Gesundheitsversorgung. Bei Protest droht ihnen Gefängnis, Folter und Tod.
Simia bittet die Parlamentsmitglieder, sich für einen Moment in die Lage dieser Frauen zu versetzen. «Kann man so leben?», fragt sie leise. Auch das SEM sieht Afghaninnen einer «flüchtlingsrelevanten Verfolgung» ausgesetzt. Am Donnerstag hat es erklärt, weshalb es im Sommer die Praxis geändert hat. Kurz vor Beginn der Wintersession, in der das Parlament über die Vorstösse entscheidet. Vizedirektor Claudio Martelli sagt: «Wir haben unseren gesetzlichen Auftrag wahrgenommen.»
Die Kriterien für Asyl sind im Gesetz festgelegt, basierend auf der Flüchtlingskonvention, auf die sich die Staaten geeinigt haben. Das SEM muss entscheiden, ob eine Person die Kriterien erfüllt. Es analysiert laufend die Situation in den Herkunftsländern und legt eine Praxis fest, die gewährleistet, dass alle gleich behandelt werden. Dabei berücksichtigt es die Praxis anderer Länder und die Empfehlungen der europäischen Asylagentur.
Im Fall von Afghanistan ist das SEM zum Schluss gekommen, dass Frauen die Asylkriterien erfüllen. Deshalb werden Afghaninnen – anders als Afghanen – nun in der Regel nicht bloss vorläufig aufgenommen, sondern als Flüchtlinge anerkannt. Seit der Machtübernahme der Taliban habe sich die Situation der Frauen und Mädchen in Afghanistan kontinuierlich verschlechtert, sagt das SEM. Ihre Grundrechte seien massiv eingeschränkt. Frauen aus Afghanistan könnten sowohl als Opfer einer diskriminierenden Gesetzgebung als auch einer religiös motivierten Verfolgung betrachtet werden.
Darf sich das Parlament einmischen?
Doch nun will das Parlament in dieser Frage mitreden. Darf es das? Kritiker sehen die Gewaltenteilung verletzt: Das Parlament hat die Aufgabe, Gesetze zu erlassen – und nicht, über deren Anwendung zu bestimmen. Trotzdem darf es fordern, dass die Praxisänderung rückgängig gemacht wird. Vorstösse sind zulässig, solange das Parlament nicht auf eine Verwaltungsverfügung – etwa einen Asylentscheid – für eine bestimmte Person einwirken will. Die Absicht des Gesetzgebers sei gewesen, nur diesen Fall für unzulässig zu erklären, sagt Andreas Glaser, Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich.
Stimmen SVP, FDP und einige Mitte-Vertreter zu, könnten die Vorstösse angenommen werden. Was geschieht dann? Der wahrscheinlichste Fall: Der Entscheid ändert nichts. Der Bundesrat erhält damit den Auftrag, die Praxisänderung rückgängig zu machen. Er kann sich aber weigern, diesen Auftrag direkt umzusetzen, und dem Parlament stattdessen eine Rechtsänderung vorschlagen. Fraglich ist allerdings, was deren Inhalt sein könnte.
Klar ist: Den Flüchtlingsbegriff darf das Parlament nicht einschränken, etwa durch eine Spezialregelung für Afghaninnen. «Das Parlament muss sich ans Völkerrecht halten», sagt Alberto Achermann, Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern. Geändert werden könnten die Zuständigkeiten. Das sei aber wenig realistisch, sagt Stefan G. Schmid, Professor für Verfassungsrecht an der Universität St. Gallen. «Es wäre kaum zielführend, wenn das Parlament künftig dafür zuständig wäre, die Asylpraxis für einzelne Länder festzulegen.»
Gericht dürfte SEM-Entscheid stützen
Setzt der Bundesrat den Auftrag direkt um, weist er das SEM an, die Praxisänderung rückgängig zu machen. Afghaninnen, die danach nur vorläufig aufgenommen werden, könnten beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde einreichen. Kommt dieses zum Schluss, dass sie die Asylkriterien erfüllen, muss das SEM die Praxis erneut ändern. Bei seinem Entscheid wäre das Gericht nicht an das Anliegen des Parlaments gebunden, solange dieses nicht im Gesetz stehe, sagen die Rechtsexperten.
Wie aber würde es entscheiden? Laut Alberto Achermann hat das Gericht, wie es auch die Praxis der anderen europäischen Staaten ist, in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass Personen allein aufgrund des Geschlechts als Flüchtlinge anerkannt werden können, wenn ihnen aufgrund dieser Eigenschaft, also ihres «Seins», ernsthafte Nachteile drohen – ohne spezifische Aktivitäten der Verfolgten. Er hält es daher für «sehr wahrscheinlich», dass das Gericht zum Schluss käme, Afghaninnen sei Asyl zu gewähren.
Die SVP und die FDP kritisieren die neue Praxis vor allem mit Blick auf Afghaninnen, die in einem Drittstaat wie dem Iran oder Pakistan lebten, bevor sie in die Schweiz kamen. Das könne er ein Stück weit nachvollziehen, sagt Achermann – zumindest bei Frauen, die während Jahren relativ unbehelligt im Iran gelebt hätten. Das SEM betont, es prüfe jeden Einzelfall. Den Iran, Pakistan und die Türkei erachtet es jedoch nicht als sichere Drittstaaten, weil afghanischen Bürgern dort die Abschiebung nach Afghanistan droht. Ohnehin müssten die Staaten einer Rückführung aus der Schweiz zustimmen.
Bisher keine Sogwirkung
Eine Sogwirkung hat das SEM laut Claudio Martelli wegen der Praxisänderung bisher nicht festgestellt. Es rechnet auch künftig nicht damit: Viele Länder folgten den Empfehlungen der europäischen Asylagentur, darunter Schweden, Dänemark, Finnland, Spanien, Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland, Belgien und Portugal.
In den vergangenen Monaten haben vor allem jene Afghaninnen ein Asylgesuch gestellt, die bereits als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz waren. Erhalten sie Asyl, können sie ihre Familie sofort nachziehen. Laut dem SEM reisen die meisten Afghaninnen aber bereits mit ihren Familien ein. Zwischen Januar und September reisten nur rund 200 Frauen allein in die Schweiz ein.
Auch Shabnam Simia, die geflohene Juristin in Winterthur, versteht die Sorge vor dem Pull-Effekt nicht. Die wenigsten Frauen könnten Afghanistan verlassen, sagt sie. Für jene, die es schafften, sei es nicht leicht. «Als Flüchtling muss man wieder bei null anfangen.» Simia lernt derzeit Deutsch. Später möchte sie arbeiten – und ein Buch über den Totalitarismus der Taliban schreiben. Sie sagt: «Fundamentalisten sind auf dem Vormarsch. Wir müssen sie bekämpfen. Gemeinsam.»
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