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Afghaninnen auf der Flucht
Als die Taliban bei ihnen auftauchten, suchten sie Schutz in der Schweiz

Die 32-jährige Afghanin Shabnam Asem ist mit einem humanitären Visum in die Schweiz gereist.
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Die Schweiz komme ihr vor wie ein einziger grosser Garten, sagt Shabnam Asem. Grün und schön. Die 32-jährige Afghanin lebt seit vier Monaten in einer Asylunterkunft in der Romandie. Noch vor zwei Jahren hatte sie sich ihr Leben anders vorgestellt. Ganz anders. Die Juristin arbeitete in Kabul als Gerichtsschreiberin und hatte einen Lehrauftrag an der Universität. «Wir haben es nicht kommen sehen», sagt Asem.

In diesen Tagen jähren sich der abrupte Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban zum zweiten Mal. «Am Anfang gab es Anzeichen dafür, dass die Taliban sich diesmal anders verhalten würden», sagt Asem. «Auch mein Vater rechnete nicht damit, dass es so schlimm werden würde.» Doch in wenigen Monaten dreht das Regime die Uhren um 20 Jahre zurück – und beschneidet Frauen- und Menschenrechte.

Über eine Million Menschen sind seither aus dem Land geflüchtet. Auch in der Schweiz stellen monatlich immer noch Hunderte ein Asylgesuch. Oft überqueren sie mithilfe von Schleppern die Grenzen. Eine Alternative ist die Einreise in die Schweiz mit einem humanitären Visum. Die Hürden dafür sind allerdings hoch: Das humanitäre Visum ist jenen vorbehalten, die belegen können, dass sie «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet sind». Zudem muss ein enger Bezug zur Schweiz vorliegen.

Seit August 2021 haben 2577 Afghaninnen und Afghanen ein humanitäres Visum beantragt. Asem gehört zu den knapp sechs Prozent, die eines erhalten haben. 

Immer wieder Drohungen

In Afghanistan lebt Shabnam Asem nach dem Machtwechsel in Angst. Sie darf nicht mehr arbeiten, verlässt das Haus kaum noch. «Draussen bestand stets die Gefahr, dass man verhaftet wird», sagt sie. Die Taliban nehmen vor allem jene ins Visier, die für die frühere Regierung gearbeitet haben. Wie Asems Vater und ihr Bruder.

Der Vater war Richter und Vorsitzender eines Appellationsgerichtes. Er war auch verantwortlich für ein Gefängnis. Asem sagt, dort seien Gewaltverbrecher inhaftiert gewesen, darunter viele Taliban. Nach dem Machtwechsel hätten die Taliban sie einfach freigelassen. «Jeder Einzelne war eine Gefahr für meinen Vater, für die ganze Familie.» Der Vater habe immer wieder Drohanrufe und -nachrichten erhalten. Nachrichten der Art: «Wir wissen, was du getan hast und wo du wohnst.»

Die Familie fürchtet, dass sie in ihrem Haus nicht mehr sicher ist. Sie kommt bei Verwandten unter. Kurz darauf erfährt sie, dass zu Hause tatsächlich bewaffnete Taliban aufgetaucht sind. «Da hat mein Vater entschieden, dass wir Afghanistan verlassen müssen.»

«Mein Vater hätte das niemals zugelassen. Eine solche Flucht ist für Frauen sehr gefährlich.»

Shabnam Asem über eine Flucht mit Schleppern

Im März 2022 – ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban – flüchtet die Familie in den Iran, mit Touristenvisa. Zweimal kann sie diese verlängern, obwohl sie dafür eigentlich nach Afghanistan zurückkehren müsste. Danach hält sich die Familie illegal im Iran auf. Bis sie nach einem Termin auf der Schweizer Botschaft im Iran humanitäre Visa für die Schweiz erhält. 

Schlepper zu bezahlen, um auf eigene Faust ohne Visum Grenzen zu überqueren und nach Europa zu gelangen, war keine Option. Asem sagt: «Mein Vater hätte das niemals zugelassen, nur schon wegen uns Töchtern. Eine solche Flucht ist für Frauen sehr gefährlich.»

Ende März 2023 reisen die Asems in die Schweiz. Eine Tante, die seit über 25 Jahren in der Schweiz lebt, hatte sich von Anfang an dafür engagiert – mithilfe der Organisation SAJE, der Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende des Hilfswerks der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz in der Westschweiz.

Es sei kompliziert gewesen, sagt Asem. Sie habe der Anwältin viele Dokumente schicken müssen. Belege für ihre frühere Tätigkeit und jene des Vaters und des Bruders, Belege für die Drohungen gegen die Familie, Belege für die Verwandtschaft mit der Tante. Die Anwältin hatte schon danach gefragt, als die Familie noch in Afghanistan war. «Zum Glück», sagt Asem. «Ich weiss nicht, wie wir sonst an die Dokumente gekommen wären.»

Zweifel an Echtheit von Taliban-Haftbrief

Dokumente – sie sind das A und O für ein humanitäres Visum. Das musste auch Malalai H. lernen, deren richtiger Name in diesem Artikel zu ihrem Schutz nicht genannt wird. Die vierfache Mutter hat in Afghanistan 20 Jahre für Schweizer Nicht­regierungs­organisationen gearbeitet. Sie hat die Bildung von Frauen vorangetrieben oder sich für Opfer von Menschenhandel eingesetzt – und dabei auch Talibanmitglieder vor Gericht gebracht. Schon vor der Machtübernahme erhielt sie Todesdrohungen.

Danach haben die Taliban mehrmals bewaffnet ihr Haus durchsucht, wie sie sagt. Ausserdem stehen ihr Name und jener ihrer Familienmitglieder auf einem Haftbefehl der Taliban, gemäss welchem sie «auf der Stelle» verhaftet werden soll. Trotzdem lehnte das Staatssekretariat für Migration (SEM) ihr Gesuch für ein humanitäres Visum im Frühling letzten Jahres ab.

«Ich glaube fest an die Menschlichkeit.»

Malalai H.

Die Asylbehörde zweifelt zum einen ihre Beweislage an. Ein solcher Haftbrief könne «von Fälschern gekauft werden», schrieb das SEM in seiner Begründung. Zum anderen wertet die Behörde die Arbeit für eine Schweizer Organisation nur dann als engen Bezug zur Schweiz, wenn die Organisation Geld vom Bund erhält. 

Versteckt sich vor den Taliban und hofft auf ein humanitäres Visum: Malalai H.

«Ich verstehe nicht, warum mir die Schweiz nicht hilft», sagt Malalai H., die nun seit zwei Jahren vor den Taliban flüchtet. Seit März 2022 versteckt sie sich in Pakistan und hofft, dass ihr die Schweiz doch noch ein humanitäres Visum ausstellt. «Ich glaube fest an die Menschlichkeit und daran, dass ich als Menschenrechts­verteidigerin, die gegen den Menschenhandel kämpft, mich und meine Familie nicht auf illegale Weise über die Grenze bringen sollte.»

Unterstützung erhält sie von Rechtsanwalt Paolo Bernasconi. Der ehemalige Tessiner Staatsanwalt setzt sich mit einer Stiftung für Asylsuchende ein und hat die Ablehnung des Gesuchs vor dem Bundes­verwaltungsgericht angefochten. Noch hat dieses kein Urteil gefällt.

«Ihr Leben ist in Gefahr. Denn auch Pakistan ist für Menschen, die von den Taliban verfolgt werden, die Hölle», sagt Bernasconi. Die Polizei führe regelmässig Razzien durch. Die Gefahr, dass Malalai H. deportiert werde, sei gross. «Die Voraussetzung, um legal und einigermassen sicher weiterzureisen, ist ein humanitäres Visum», sagt Bernasconi.

Parlament will keine Lockerungen

Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider stellte im Juni in einem Interview mit SRF in Aussicht, die Anforderungen für humanitäre Visa zu überprüfen. Etwa, was den Bezug zur Schweiz angeht. Das Parlament hat sich allerdings bisher gegen Lockerungen ausgesprochen.

Shabnam Asem hat es geschafft. Sobald sie die Sprache beherrscht, will sie Briefe schreiben und sich bedanken – beim Leiter einer Asylunterkunft und beim Staatssekretariat für Migration. Auch ihrer Anwältin ist sie sehr dankbar. «Die Schweiz hat uns geholfen», sagt sie. «Das werde ich nie vergessen.» Sie wolle sich anstrengen, in der Schweiz arbeiten, etwas zurückgeben. Auch wenn sie sich ihr Leben eigentlich anders vorgestellt habe.