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Afghanische Radfahrerin
Sie wurde mit Tomaten beworfen, nur weil sie auf einem Velo sass

Liebt das Gefühl der Freiheit beim Velofahren: Masomah Ali Zada.
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Ein unscheinbares Sitzungszimmer. Grauer Teppichboden, weisse Stehlampe. Vor dem aufgeklappten Laptop sitzt eine Frau mit Kopftuch. Hinter ihr die weisse, kahle Wand. Sie knetet ihre Finger. «Cycling», tönt es aus dem Computer, «Masomah Ali Zada».

Der Frau im Kopftuch laufen die Tränen übers Gesicht.

Masomah Ali Zada sitzt im Hauptquartier des Radsport-Weltverbands in Aigle, ein paar Kilometer bevor die Rhone in den Genfersee fliesst. Sie hat gerade erfahren, dass sie für das olympische Zeitfahren selektioniert wurde. Masomah Ali Zada kommt aus Afghanistan. Einem Land, in dem es viele Leute gibt, die nicht damit einverstanden sind, dass Frauen am öffentlichen Leben teilhaben. Geschweige denn, dass sie Fahrrad fahren.

«Du bist ein Mädchen, du kannst hier nicht Velo fahren»

Ali Zada lernt Rad fahren, als sie neun Jahre alt ist. Sie und ihre Familie, Angehörige der schiitischen Hazara-Minderheit, leben zu dieser Zeit im Iran im Exil. Die kleine Masomah liebt das Gefühl der Freiheit, das sie beim Velofahren hat. Als sie nach Kabul zurückkehren, beginnt Masomah, Sport zu studieren. Aber sie vermisst das Radfahren. Als sie sich ein Velo wünscht, sagt ihr Vater: «Du bist ein Mädchen, du kannst hier nicht Velo fahren.» Doch Ali Zada bleibt stur. Und irgendwann lenkt der Vater ein. Sie schliesst sich einer Gruppe Rad fahrender Frauen an.

Trainieren können sie nur früh am Morgen oder spät am Abend, wenn die Strassen einigermassen leer sind. Fahrradfahren ist für Frauen in Kabul gefährlich. Manchmal werden sie mit Tomaten beworfen, manchmal mit Kartoffeln oder verfaulten Wassermelonen. Fast immer mit Steinen. Und manchmal drängen sie Autofahrer so von der Strasse, dass sich die Frauen im Graben wiederfinden.

Verwundbar im Verkehr: Radfahren ist für Frauen in Kabul gefährlich.

Eineinhalb Stunden ausserhalb des Zentrums liegt ihr Trainingsgelände. Ein nie fertiggestelltes Immobilienprojekt in der Wüste liefert eine wunderbar geteerte, schnurgerade Strasse mit einem riesigen Kreisel. Das ist ihr Velodrom.

Wenn Ali Zada im Sattel sitzt, fühlt sie sich wieder frei. «Die Mädchen, die Velo fahren, sind frei. Sie sind die einzigen freien Mädchen in diesem Land», sagt sie in einer Reportage, die der Sender Arte 2015 über sie und ihre Gruppe dreht.

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Ihr ganz eigenes Velodrom: Der Trainingsplatz der Gruppe ausserhalb von Kabul.

Unterstützt werden die Frauen von Abdul Sadiq Sadiqi, einem ehemaligen Radrennfahrer. Er gibt ihnen Tipps, stellt ihnen auch die Fahrräder zur Verfügung, beschützt sie auf dem Weg vom und zum Trainingsgelände. Oft tauchen da auch einfach Frauen auf, die das Fahrradfahren lernen wollen. Auch ihnen hilft er.

Durch die Arte-Reportage wird Masomah Ali Zada 2016 eingeladen, bei einem Rennen im französischen Albi teilzunehmen. Da trifft sie Patrick Communal und seinen Sohn Thierry. Auch sie haben die Reportage gesehen, sind fasziniert vom Elan und Spirit der jungen Frau. Nach dem Rennen, das Ali Zada auf Rang 2 abschliesst, laden sie sie zu sich nach Hause ein. Es wird ein wunderbarer Abend voller Hoffnung für die Zukunft.

Doch nachdem Ali Zada in ihre Heimat zurückkehrt, ändert sich die Situation dort zunehmend. Die Kämpfe in den Provinzen nehmen zu, und auch die Terrorattentate in Kabul. An einem Tag im Juni sterben 25 Menschen bei drei verschiedenen Anschlägen.

26 Halal-Pouletschenkel im Tiefkühler

Vater und Sohn Communal sind betroffen. Thierry ist Uniprofessor, Patrick Anwalt im Ruhestand. Sie beschliessen, die Ali Zadas nach Frankreich zu holen. Im April 2017 lassen Masomah, Vater, Mutter, Schwester und drei Brüder, ihr altes Leben hinter sich und fliegen mit den erhaltenen Flüchtlingsvisa nach Frankreich.

In einem kleinen Ort in der Bretagne dürfen sie im Haus von Thierry wohnen, die Nachbarn erwarten sie mit Blumen, eine Metzgerei in der Nähe füllt den Tiefkühler mit 26 Halal-Pouletschenkeln. Die Familie ist überwältigt von der Gastfreundschaft, vom Meer, das sie noch nie zuvor gesehen haben, vom Heimweh und dem Wissen, dass sie ihre Verwandten vielleicht nie mehr wiedersehen werden.

«Gross träumen heisst heute für ein Mädchen, dass es zur Schule gehen kann.»

 Masomah Ali Zada über die heutige Situation in Afghanistan

Die nun 21-jährige Masomah ist die Einzige in der Familie, die Englisch spricht. Sie ist nun das Oberhaupt, kümmert sich um alles. Sie lernt Französisch, geht nach Lille und beginnt Bauingenieurswesen zu studieren. Aber es ist hart. Sie wohnt im Studentenheim, teilt das Badezimmer mit sieben jungen Männern. Sie probiert, sich jeden Tag drei, vier Stunden aufs Rad zu setzen, aber das Wetter ist kalt und nass.

Ali Zada braucht ein Ziel. Und da verfestigt sich in ihrem Kopf dieser olympische Traum. Patrick und Thierry Communal sind zuerst dagegen, sie finden, Ali Zada solle zuerst fertig studieren. Doch Ali Zada bleibt auch diesmal stur. 2019 wird sie ins olympische Flüchtlingsteam aufgenommen und zieht in die Schweiz nach Aigle, zum Hauptsitz der UCI. 1500 Euro erhält sie im Monat.

Im Juni 2021 sitzt sie in dem kahlen Sitzungszimmer und erhält das Aufgebot. Ihre Sturheit und ihr Wille haben sich ausbezahlt. Am 28. Juli fährt sie das olympische Zeitfahren. Sie wird mit 14 Minuten Rückstand Letzte, doch auf der Strecke merkt sie immer wieder, wie Leute sie anfeuern, wie sie ihren Namen rufen.

Unterwegs riefen ihr die Leute ihren Namen zu: Masomah Ali Zada beim Olympiarennen in Tokio.

Wenn Ali Zada heute an Tokio zurückdenkt, wird sie traurig. Zweieinhalb Wochen nach ihrem Zeitfahren nehmen die Taliban Kabul ein. Es ist das Ende der Rad fahrenden Frauen. «Gross träumen heisst heute für ein Mädchen, dass es zur Schule gehen kann», sagt Ali Zada. «Sport ist komplett tot für sie.»

Darum ist es ihr umso wichtiger, ihre Botschaft weiterzutragen. Der Welt ihre Geschichte – und die aller Mädchen in Afghanistan – zu erzählen. Das tut sie auch an der Rad-WM in Glasgow, wo sie die Farben des Refugee Team trägt, des Flüchtlingsteams. Am Sonntag startet sie mit ihrer Schwester Zahra und zwei weiteren Athletinnen aus Afghanistan ins Strassenrennen.