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Gewöhnungseffekt mit Folgen
So verändert Zucker das Gehirn

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Unser Gehirn betrügt uns selten, bei den grossen, wesentlichen Dingen ist auf es doch weitgehend Verlass. Dass Süsses meist vorzüglich schmeckt, zum Beispiel, damit tut das Gehirn uns und sich selbst im Grundsatz erst einmal etwas Gutes.

Denn Zucker bedeutet lebenswichtige Energie – und besonders das Gehirn ist darauf angewiesen: Es macht gerade einmal etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts aus, verbraucht aber 20 Prozent der Energie.

«Hinzu kommt, dass das Gehirn keine eigenen Energiespeicher besitzt», sagt Christian Sina, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck (D). «Es hat keine wirkliche Alternative, als möglichst regelmässig durch Zucker aus dem Blut versorgt zu werden.»

Darm-Hirn-Achse fordert mehr Zucker

Kein Wunder also, dass gleich mehrere Mechanismen dafür sorgen, dass unsere Zuckerversorgung im Gehirn am Laufen bleibt. Da ist zunächst die frühe, sogenannte cephalische Phase: Wir brauchen nur etwas Süsses zu riechen oder auch nur daran zu denken, schon werden entsprechende Zentren im Gehirn aktiviert, die eine Belohnung in Aussicht stellen. Mmh, war da nicht noch eine halbe Tafel Schokolade im Schrank? Mal schauen …

Gelangt das Süsse in den Magen-Darm-Trakt, schaltet sich die sogenannte Darm-Hirn-Achse ein. Im Darm werden Nerven stimuliert, die im Gehirn nicht nur den Antrieb freisetzen, dass wir mehr Zucker wollen – sie sorgen auch mittelfristig dafür, dass die Vorliebe für Zucker, die unter anderem durch die süsse Muttermilch geprägt wurde, bestehen bleibt, wie Wissenschaftler – einer der Forscher heisst tatsächlich Zuker, Charles Zuker – vor vier Jahren im renommierten Fachmagazin «Nature» zeigen konnten.

Und gelangt der Zucker schliesslich ins Gehirn, werden über den Botenstoff Dopamin die Belohnungszentren aktiviert – und die sorgen für ein tolles Gefühl. Nach dem Motto: Das ist gut, bitte mehr davon!

Zucker ist überall

«Nur eine kleine Sache hat die Evolution vergessen, uns in die Wiege zu legen: eine Grenze für die Zuckermenge», sagt Christian Sina. Und das ist heute ein riesiges Problem. Millionen Menschen sind weltweit übergewichtig, leiden an Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, denn Zucker ist heutzutage nahezu immer und überall verfügbar, in vielen Lebensmitteln zugesetzt, oft, ohne dass die Verbraucher das überhaupt wissen.

Das hat Folgen. Immer mehr Studien weisen auf eine Art Gewöhnungseffekt im Gehirn hin, der alles nur noch schlimmer macht. Forscher des Max-Planck-Instituts (MPI) für Stoffwechselforschung in Köln haben dieses Phänomen jüngst erneut in einer im Fachmagazin «Cell Metabolism» erschienenen Studie gezeigt: Hierfür liessen sie zwei Gruppen normalgewichtiger Probandinnen und Probanden acht Wochen lang zusätzlich zu ihrer normalen Nahrung täglich einen kleinen Pudding essen.

In einer Gruppe enthielt der Pudding viel Fett und viel Zucker. Nach acht Wochen wurde mittels Magnetresonanztomografie das Gehirn durchleuchtet und die Reaktion auf fett- und zuckerhaltige Shakes beobachtet. Das Ergebnis: Den Testpersonen, die acht Wochen lang fett- und zuckerhaltigen Pudding gegessen hatten, schmeckten die fett- und zuckerhaltigen Shakes besonders gut. Hoher Zuckerkonsum führt also offenbar dazu, dass man dem Zucker im Laufe der Zeit noch mehr zugeneigt ist.

Übergewicht verändert das Gehirn

Doch die Studie lieferte noch einen weiteren, fast noch beängstigenderen Befund. Wer viel Zucker isst, bei dem verschlechtert sich womöglich allmählich ein kleiner Teilbereich des sogenannten assoziativen Lernens, also die Fähigkeit, einzuschätzen, wie viel Energie in der Nahrung genug für einen ist. «Wer an Zucker gewöhnt ist, der entscheidet sich eher für mehr Kalorien», sagt der Hirnforscher Marc Tittgemeyer, Arbeitsgruppenleiter am MPI für Stoffwechselforschung und einer der Autoren der Studie. «Man bestellt dann im Restaurant zum Beispiel als Beilage eher Pommes statt Reis.»

Das Dramatische daran ist, dass insbesondere übergewichtige Menschen durch die steigende Zuwendung zum Zucker im Laufe der Zeit in eine Art Spirale kommen, die eine Abwendung im sehr fortgeschrittenen Stadium fast unmöglich macht. «Es heisst oft, dass Menschen mit Adipositas schlicht die Disziplin fehle. Aber da tut man ihnen unrecht», sagt Tittgemeyer. «Starke Adipositas ist kein Problem der Disziplinlosigkeit – die Hirnvernetzung ist derart verändert, dass gar keine andere Wahl bleibt, als viel zu essen.»

Bessere Haut, besserer Atem, besserer Schlaf

Auf lange Sicht ist eine erhöhte Zuckerzufuhr für das Gehirn aber nicht nur wegen dieser sich schleichend entwickelnden Vorliebe für immer mehr Süsses problematisch. Über viele Jahre häufig und länger erhöhte Blutzuckerspiegel können auch die Gefässe im Gehirn schädigen und das Schlaganfallrisiko erhöhen. Und: «Bestimmte Zuckermoleküle, sogenannte Glykosaminoglykane, können auch die Funktion der Nervenverbindungen, der Synapsen, beeinträchtigen», sagt der Neurologe Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Damit ist naheliegend, dass eine dauerhaft erhöhte Zuckerzufuhr das Demenzrisiko steigert.

Positiv betrachtet aber ist es so: Den allermeisten Menschen könne es gut gelingen, ihr Gehirn – wenn auch nur langsam – allmählich wieder vom Zucker zu entwöhnen, sagt Hirnforscher Tittgemeyer. «Anders als beim Rauchen, wo ja häufig empfohlen wird, von heute auf morgen komplett aufzuhören, sollte man den Zuckerkonsum aber nicht direkt radikal herunterfahren», sagt Neurologe Peter Berlit. «Es geht vielmehr darum, die persönliche Zufuhr langsam zu senken – dann gewöhnt sich das Gehirn auch leichter daran.»

Ansporn für eine solche Entwöhnung braucht gar nicht die Angst vor den Folgen von dauerhaft hoher Zuckerzufuhr zu sein. Es gibt vielmehr auch Anreize: Bei zuckerarmer Ernährung stabilisiert sich schon nach wenigen Tagen der Blutzucker, häufig verbessert sich die Schlafqualität, der Atem wird frischer; nach mehreren Wochen bereits hellt sich häufig auch das Hautbild auf, man beginnt abzunehmen. Und im Gehirn werden allmählich der Geschmack und die Einschätzungsfähigkeit für die Essensmenge wieder normalisiert.