Interview zur neuen LebensmittelpyramideWarum sollen wir nur noch 360 Gramm Fleisch pro Woche essen, Frau Jost?
Esther Jost leitet die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung. Sie erklärt, warum der Bund in seinen neuen Empfehlungen nicht mehr zu Fruchtsäften und Fisch rät – dafür zu Hülsenfrüchten.
Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) neue Ernährungsempfehlungen erarbeitet und diese gemeinsam mit der Lebensmittelpyramide am Mittwoch vorgestellt. Wir haben Fragen an die SGE-Leiterin Esther Jost.
Warum braucht es eine neue Lebensmittelpyramide, Frau Jost?
Das Interesse an Ernährungsthemen ist riesig. Doch leider gibt es viele ungesicherte oder falsche Informationen. Die nun veröffentlichten schweizerischen Ernährungsempfehlungen basieren hingegen auf dem aktuellen Fachwissen zum Thema gesunde und nachhaltige Ernährung. Sie sind fundiert und sollen eine Orientierungshilfe für die Bevölkerung sein. Zudem werden sie als Lehrmaterial und für die Ernährungsberatung eingesetzt.
Welche Kriterien wurden dabei berücksichtigt?
Es wurden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den wichtigsten Nährstoffen einbezogen und dabei die kulturellen Essgewohnheiten in der Schweiz berücksichtigt. Deshalb sind zum Beispiel Milchprodukte als eigenständige Gruppe erwähnt. Erstmals haben wir zudem auch die Nachhaltigkeit systematisch integriert. Das heisst, auch die Ressourcenknappheit von Lebensmitteln und die Auswirkungen auf das Klima sind in den Empfehlungen enthalten.
Welches sind die grössten Neuerungen?
Eine wichtige Änderung betrifft die proteinhaltigen Lebensmittel. Die pflanzlichen Proteinlieferanten werden jetzt stärker betont. Hülsenfrüchte wie Linsen, Kichererbsen, rote, weisse Bohnen werden zuerst – vor Eiern, Fleisch und weiteren Proteinlieferanten – genannt. Bei den Erläuterungen wird dann auch auf Tofu, Tempeh oder Seitan verwiesen. Zudem haben wir die Stufe aufgeteilt und so separat die Milchprodukte als Protein- und auch zum Beispiel Kalziumlieferanten dargestellt. Neu ist auch, dass Nüsse und Samen hervorgehoben werden sowie auf der anderen Seite Öle und Fette. Hier betonen wir wiederum die pflanzlichen Öle mit den gesunden ungesättigten Fettsäuren.
Zu den Hülsenfrüchten. Das erinnert an die Ernährung der Grosseltern. Kommt alles wieder?
Das stimmt, in der Kriegsgeneration waren Hülsenfrüchte weitverbreitet, weil es kaum etwas anderes gab. Später konnten sich mehr Menschen Fleisch leisten, und so kennt die Generation, die heute zwischen 50 und 60 Jahre alt ist, kaum noch Rezepte mit Hülsenfrüchten. Inzwischen haben aber die klimabewussten Menschen um die 20, die sich vermehrt pflanzlich ernähren, die Hülsenfrüchte wiederentdeckt. Das Besondere an den Hülsenfrüchten ist, dass sie sowohl pflanzliche Proteine liefern als auch stärkehaltig sind.
Die Empfehlungen zum Fleischkonsum von höchstens 200 bis 360 Gramm pro Woche, also bis zu 18,7 Kilo im Jahr, liegen weit tiefer als der Durchschnittsverbrauch von 48 Kilo. Sind die Empfehlungen da nicht sehr weit weg von der tatsächlichen Ernährung?
Jein, es gibt Leute, die sich sehr bewusst und relativ nahe an den Empfehlungen ernähren. Andere essen jedoch sehr viel Fleisch und treiben den Durchschnittsverbrauch in die Höhe. Die Empfehlungen sind ein Orientierungswert für Erwachsene zwischen 18 und 65 Jahren. Wer sich daran hält, kann Übergewicht vorbeugen und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs senken. Wir werden die Informationen nun zielgruppengerecht anpassen. Beispielsweise starten wir mit einem Projekt, das sich an 18- bis 25-Jährige richtet.
Was ist mit Fisch, wieso gibt es dazu gar keine Empfehlung mehr?
Der Fischkonsum ist in den Hintergrund getreten. Zwar ist immer noch ein Fischfilet als eine der Proteinalternativen neben Hülsenfrüchten, Fleisch und Tofu abgebildet. Vor allem beim Fisch fällt die Nachhaltigkeit, konkret die Überfischung, stark ins Gewicht. Fisch darf man zwar weiterhin essen, es gibt aber keine Mengenempfehlungen mehr. Wichtig ist der Hinweis, dass die Konsumierenden kleinere Fischarten wie Heringe, Sardellen oder Makrelen wählen sollten statt stark überfischte Arten wie Lachs oder Thunfisch.
Was ist mit den wertvollen Omega-3-Fettsäuren von Fischen, kann man diese durch pflanzliche Produkte ersetzen?
Nein. Zwar empfehlen wir auch Rapsöl, das ein besonders gutes Verhältnis von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren aufweist. Im Fisch sind jedoch andere Omega-3-Fettsäuren enthalten, die Eicosapentaen- und Docosahexaensäure. Es ist schwer, diese nur durch pflanzliche Nahrungsmittel abzudecken. Für Menschen, die komplett auf Fisch verzichten, verweisen wir auf Supplemente.
«Fruchtsäfte bieten nicht die gleichen Vorteile wie Früchte und liefern viele Kalorien.»
Manche Lebensmittel fehlen. Wo sind die Fruchtsäfte?
Fruchtsäfte sind nicht mehr in der Lebensmittelpyramide abgebildet. In den Ernährungsempfehlungen haben wir eine Beschränkung von nicht mehr als vier Portionen Fruchtsaft pro Woche eingefügt. Der Grund ist, dass Fruchtsäfte weniger Nahrungsfasern und viel Zucker enthalten. Sie bieten nicht die gleichen Vorteile wie ganze Früchte, sättigen kaum und liefern viele Kalorien.
Sie geben auch Empfehlungen zum Kaffee, wie viel darf es denn sein?
Das BLV hat dabei wissenschaftliche Studien berücksichtigt, die zeigen, dass ein moderater Kaffeekonsum gesundheitsförderlich ist, und hat zudem die Konsumgewohnheiten der Schweizer Bevölkerung und den Umweltaspekt berücksichtigt. So lautet die Empfehlung nun: nicht mehr als drei Tassen Kaffee pro Tag. Dabei wird auch die maximale Koffeindosis pro Tag eingehalten. Aber natürlich darf jeder selber entscheiden und zum Beispiel vier Tassen pro Tag trinken, wenn man Kaffee gern mag. Aus Umweltsicht wären übrigens null bis sechs Tassen möglich. Jede Person kann individuell abwägen, wo sie ihren Schwerpunkt in der Ernährung legt. Da sind die neuen Empfehlungen sehr transparent, welche von ihnen die gesundheitlichen Aspekte betreffen und welche die Umwelt.
Steht der Umweltaspekt auch bei den Empfehlungen für Obst und Gemüse im Vordergrund?
Weitgehend sind die Empfehlungen mit «fünf am Tag», also drei Portionen Gemüse und zwei Portionen Früchte, unverändert. Man sollte sie so bunt wie möglich auswählen. Hinzugekommen ist, dass Konsumentinnen und Konsumenten vor allem saisonale Produkte wählen sollten. Nur auf lokale Produkte zu setzen, ist vom Umweltaspekt keine Lösung. Das BLV nennt als Beispiel, dass die CO2-Bilanz einer hiesigen Tomate, wenn sie ausserhalb der Saison in einem beheizten Gewächshaus gezüchtet wurde, schlechter ist im Vergleich zu einer Tomate aus dem Freiland aus Italien, die per Lastwagen hertransportiert wurde. Beim Einkaufen ist es aber oft schwierig, immer das Kleingedruckte zu lesen. Eine einfache Regel ist, saisonale und lokale Produkte auszuwählen.
Sie erwähnen sogar Milchersatzprodukte, die Pflanzendrinks. Soll man sie trinken oder eher nicht?
Der Markt dieser Produkte ist extrem in Bewegung, und es wird in nächster Zeit zahlreiche neue Pflanzendrinks geben. Man kann also nicht generell sagen: Nimm dieses oder jenes. Generell gilt, dass Pflanzendrinks oder auch Käse- und Joghurt-Alternativen ein ganz anderes Nährstoffprofil haben als Milchprodukte. Sojadrinks kommen dabei der Kuhmilch am nächsten. Ein grosses Thema wird auch die Verträglichkeit sein, wenn immer mehr Menschen grössere Mengen davon konsumieren. Da weiss man im Moment noch sehr wenig.
Was empfehlen Sie bei verarbeiteten Produkten?
Auch da gilt: zurück zur Ernährung der Grosseltern. Die Bevölkerung sollte also möglichst unverarbeitete Produkte konsumieren, dann weiss man, was drin ist. Ultrahochverarbeitete Produkte sind schwierig zu beurteilen. Klar ist aber, dass sie in der Regel keine gute Nährstoffbilanz aufweisen. Deshalb gilt: Je kürzer die Zutatenliste eines Produktes ist, desto besser. Und am besten sind unverarbeitete Produkte.
An der Spitze der Lebensmittelpyramide stehen stark verarbeitete Produkte wie Süssigkeiten, salzige Snacks und Süssgetränke – und neu auch Zero-Getränke, warum?
In der obersten Stufe stehen die Nahrungsmittel, die keine oder nur sehr wenig essenzielle Nährstoffe haben, aber meist viele Kalorien liefern. Diese Produkte dienen nur dem Genuss und sind aus Ernährungssicht verzichtbar. Man sollte sie nur sehr wenig konsumieren. Sogar Light-Getränke liefern noch bis zu 20 Kilokalorien pro 100 Milliliter. Auf kalorienfreie Zero-Getränke sollte man verzichten, da sie kein guter Ersatz für Süssgetränke sind. Die Nutzerinnen und Nutzer bleiben an den süssen Geschmack gewöhnt, und die enthaltenen Säuren schädigen nach wie vor die Zähne. Als Getränk der Wahl gilt nach wie vor Wasser, ein bis zwei Liter am Tag. Wasser und ungesüsste Tees bilden die grösste untere Stufe der Pyramide.
Sie haben zusammen mit vielen anderen eine umfassende Lebensmittelpyramide ausgearbeitet, obwohl kaum jemand all die Empfehlungen umsetzen wird. Warum?
Für uns ist klar, dass die Empfehlungen nicht zu hundert Prozent in der Bevölkerung umgesetzt werden. Das kann aber auch gar nicht das Ziel sein. Ich denke aber, dass nun die Leute motiviert werden, über ihre Ernährung nachzudenken. Dass sie sich überlegen, einige Änderungen zu übernehmen und wie das in ihr Leben passt. Dafür haben wir nun aktuelle, wissenschaftlich angepasste Empfehlungen in einer neuen, frischen Darstellung. Hoffentlich nehmen viele Menschen die neue Lebensmittelpyramide als Anlass, die eigenen Ernährungsgewohnheiten zu reflektieren. Das ist der erste Schritt. Das Verhalten dann jedoch zu ändern, ist ein langer Prozess.
Änderung vom 12.9.2024: In der ersten Version des Interviews war die Aussage zum Thema Omega-3-Fettsäuren im Fisch unpräzise formuliert. Statt «Im Fisch sind jedoch andere Omega-3-Fettsäuren enthalten, die Eicosapentaen- und Docosahexaensäure. Die kann man nicht pflanzlich ersetzen», heisst es neu: «Es ist schwer, diese nur durch pflanzliche Nahrungsmittel abzudecken.»
Hintergrundinformationen stehen im Merkblatt «Neue Schweizer Ernährungsempfehlungen» (Langfassung): «Wer wenig Fisch isst oder essen möchte, sollte vermehrt pflanzliche Quellen mit Omega-3-Fettsäuren (alpha-Linolensäure) wie z.B. Leinöl, Rapsöl oder Baumnüsse verzehren und bei Bedarf – in Absprache mit einer Fachperson – ein Nahrungsergänzungsmittel mit Eicosapentaen- und Docosahexaensäure (aus Mikroalgen) einnehmen.»
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