Neue Empfehlungen des BundesGesund essen oder die Umwelt schützen – was ist wichtiger?
Schweizer Fachleute sind uneins, was beim Ernährungsratgeber Priorität haben soll: dass Menschen möglichst alt werden oder dass sie eine lebenswerte Zukunft haben.
Fisch liefert wertvolle Omega-3-Fettsäuren und gilt daher als gesund. Aus Sicht der Nachhaltigkeit sollten viele Fischarten – vor allem Seefische – aber nur sehr zurückhaltend konsumiert werden. Das führt zu einem Zielkonflikt: Sollten wir mehr Fisch essen, um gesund zu bleiben, oder weniger, um die Umwelt zu schonen?
Noch relevanter, wenn auch etwas anders gelagert, ist der Zielkonflikt beim Fleisch. Ein geringerer Konsum von rotem Fleisch – etwa Rind, Kalb, Schwein und Schaf – ist nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch gut für die Gesundheit. Wird weniger Fleisch konsumiert, ergeben sich also Synergien zwischen Umweltschutz und Gesundheit. Es stellte sich jedoch die Frage: Sollte zum Schutz der Umwelt ein geringerer Fleischkonsum empfohlen werden, als es für eine optimal gesunde Ernährung sinnvoll wäre?
Im Grunde geht es um die Frage, was wichtiger ist: dass die Menschen dank einer gesunden Ernährung möglichst alt werden – oder dass die Jugend dank einer intakten Umwelt eine lebenswerte und gesunde Zukunft vor sich hat.
Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten. Niels Jungbluth, Eigentümer und Geschäftsführer der auf Ökobilanzen spezialisierten Firma ESU-services, möchte die Nachhaltigkeit bei der Ernährungsempfehlung gern stärker mitberücksichtigen. Für das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) steht eine ausgewogene Ernährung im Zentrum, wie Urs Stalder mitteilt, Leiter Fachbereich Ernährung beim BLV: «Unsere Aufgabe ist es, die Gesundheit der Bevölkerung durch eine gesunde Ernährung zu fördern. Die Nachhaltigkeit steht deswegen klar an zweiter Stelle.»
Umweltbelastung soll in Ernährungsempfehlung einfliessen
Das BLV ist aktuell dabei, die Schweizer Ernährungsempfehlungen nicht nur hinsichtlich der neusten Erkenntnisse einer gesunden Ernährung, sondern auch mit Blick auf deren Umweltbelastung anzupassen. Das Resultat soll bis zum Herbst vorgestellt werden. Die Basis dafür liefert ein Bericht zu den wissenschaftlichen Grundlagen der Schweizer Ernährungsempfehlungen, der im Auftrag des BLV unter Federführung des Universitätsspitals Lausanne (CHUV) erstellt und im April 2023 veröffentlicht wurde.
Anfangs war ESU-services im wissenschaftlichen Konsortium vertreten, das diesen Bericht erstellen sollte. Im Projektverlauf gab es aber unterschiedliche Meinungen über die Priorisierung von Gesundheits- und Nachhaltigkeitsaspekten, wie Stalder vom BLV sagt. «Das CHUV hat die Zusammenarbeit mit ESU-services deshalb beendet.» ESU-services hat nach seinem Ausschluss aus dem Konsortium einen eigenen wissenschaftlichen Bericht zu einer nachhaltigen Ernährung erstellt.
Jungbluth und Kollegen sind der Ansicht, die Abwägung zwischen gesunder und nachhaltiger Ernährung müsse öffentlich diskutiert werden und nicht hinter verschlossenen Türen beim BLV. Nur: Wie und nach welchen Kriterien könnte man hier abwägen?
Streitpunkt ist eine Art Rückkopplungseffekt
Strittig ist vor allem eine Art Rückkopplungseffekt: Auch eine gesunde Ernährung trägt zur Erderwärmung bei – gemäss dem CHUV-Bericht ist die weltweite Nahrungsmittelproduktion für etwa ein Drittel der menschgemachten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Erderwärmung schadet aber der Gesundheit, insbesondere durch Hitzewellen. Eine eigentlich gesunde, aber klimaschädliche Ernährung ist wegen dieses Rückkopplungseffekts somit schlecht für die Gesundheit.
Wie sehr sollte dieser Effekt in den Ernährungsempfehlungen berücksichtigt werden? Gemäss dem medizinischen Fachjournal «The Lancet» sterben jedes Jahr weltweit etwa neun Millionen Menschen durch Umweltverschmutzung in Luft, Wasser und Böden. «Ein substanzieller Teil dieser Umweltbelastungen geht auf die Landwirtschaft und damit letztlich auch auf unsere Ernährung zurück», sagt Jungbluth.
Eine Berücksichtigung dieser Tatsache hätte zur Folge, «dass alle tierischen Produkte stark beschränkt werden müssten», sagt Jungbluth. Nur dann würde am Ende das Beste für unsere Gesundheit resultieren. Pflanzliche Produkte könnten im Gegenzug eher mehr konsumiert werden, da sie eine vergleichsweise geringe Umweltbelastung mit sich bringen. Damit würden auch die negativen Auswirkungen der Ernährung via Klimawandel auf die Gesundheit geringer ausfallen.
«Aus wissenschaftlicher Sicht wäre eine Berücksichtigung dieser Rückkopplungen sehr interessant», sagt Martina Alig von der Umwelt- und Wirtschaftsberatung Intep, Co-Autorin des CHUV-Berichts. «Das ging aber über den Rahmen des durchgeführten Projekts hinaus und wäre ein Thema für eine mögliche Weiterentwicklung.» Sprich: Der CHUV-Bericht geht auf die Auswirkungen der ernährungsbedingten Umweltbelastungen auf die Gesundheit gar nicht ein. BLV-Fachbereichsleiter Stalder weist aber darauf hin, dass die Folgen, die durch Produktion, Transport und Konsum von Lebensmitteln für die Umwelt und damit auch auf die Gesundheit entstehen können, in der Klimastrategie Landwirtschaft und Ernährung des Bundesamts für Landwirtschaft adressiert würden.
Unvollständige Datenbank verwendet
Damit aber nicht genug der Differenzen. «Ein Hauptunterschied zwischen beiden Berichten ist die für die Ökobilanzierung verwendete Datengrundlage», sagt Jungbluth. ESU-services nutzt eine eigene Datenbank für die Produktion und den Verbrauch von Lebensmitteln in der Schweiz. «Damit kann der ganze Schweizer Nahrungskonsum vollständig und konsistent bis zum Supermarkt bilanziert werden», sagt Jungbluth.
Die Studie des CHUV hingegen basiert auf verschiedenen Datenbanken, auch aus dem Ausland, die laut Jungbluth unvollständig sind. Jungbluth zweifelt daher an der Aussagekraft des CHUV-Berichts zur Umweltbelastung durch die Ernährung in der Schweiz. «Hier besteht dringend Nachbesserungsbedarf.»
Die Autoren und Autorinnen des CHUV-Berichts geben zu, dass die Verwendung einer einzigen, umfassenden Datenbank die Zuverlässigkeit der Ergebnisse erhöhen würde. Wie Stalder mitteilt, hätte das wissenschaftliche Konsortium nach dem Ausscheiden von ESU-services jedoch keinen Zugriff mehr auf die ESU-Datenbank gehabt. Laut Co-Autorin Alig hätte sich das Konsortium folglich auf kostenfrei zugängliche, von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Quellen abgestützt. Die ESU-Datenbank sei aber nicht kostenfrei zugänglich. Laut Jungbluth wäre der Zugriff nicht teuer: «Die Datenbank wird von uns für 7500 Schweizer Franken angeboten.»
Braucht es eine unabhängige Begutachtung der Berichte?
Um die Abwägung zwischen gesunder und nachhaltiger Ernährung zu versachlichen, schlägt Jungbluth eine externe, kritische und transparente Evaluation der beiden Berichte durch unabhängige Fachleute vor, «damit die künftigen Schweizer Ernährungsempfehlungen tatsächlich auf einem aktuellen und wissenschaftlich glaubwürdigen Ansatz beruhen.» So könne auch eine einheitliche Basis für die gesellschaftliche Debatte geschaffen werden. Das BLV lehnt das ab.
Immerhin bei einigen Punkten herrscht laut Jungbluth Einigkeit zwischen beiden Berichten. Etwa bei der grundsätzlichen Aussage, dass die Ernährung ein wesentlicher Treiber für die von der Schweizer Bevölkerung verursachten Umweltbelastungen ist. So heisst es im CHUV-Bericht: «Diese Ergebnisse bestätigen, dass eine Ernährung mit einem hohen Verzehr von rotem Fleisch nicht mit dem Ziel einer nachhaltigen Ernährung vereinbar ist.» Geflügel habe zwar die geringsten Umweltauswirkungen aller Fleischsorten, diese seien aber immer noch höher als bei veganen Fleischalternativen.
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