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Interview über zivilen Ungehorsam
«Viele wollen im demo­kratischen Spiel so nicht mehr mitmachen»

14.01.2024, Berlin: Traktoren stehen vor der angekündigten Großdemonstration des Deutschen Bauernverbandes am Brandenburger Tor auf der Straße des 17. Juni. Vor der geplanten Großkundgebung der Landwirte an diesem Montag haben sich am Wochenende bereits zahlreiche Bauern mit ihren Traktoren in Berlin positioniert. Landwirte waren mit ihren Fahrzeugen am Sonntag in Berlin und Brandenburg unterwegs. Auf rund einem halben Dutzend Routen wollen sie am Montag von mehreren Seiten ins Zentrum der Hauptstadt auf der Straße des 17. Juni zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor zusammenkommen. Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Sebastian Gollnow)

Herr Celikates, in Deutschland haben die Bauern jüngst mit Traktoren den Verkehr lahmgelegt und auch den Vizekanzler daran gehindert, von einer Fähre an Land zu gehen. Entspricht dieser zivile Ungehorsam demjenigen der Klimakleber?

Es gibt tatsächlich Parallelen. In der Demokratie sind Proteste, die mit zivilem Ungehorsam verbunden sind und dezidiert gegen Gesetze verstossen, eine im Prinzip legitime Form der politischen Meinungsäusserung. Typischerweise handelt es sich um gewaltfreie, öffentliche Aktionen. Mit dem zivilen Ungehorsam möchte man die Dringlichkeit seines Anliegens verdeutlichen und eine Art fundamentalen Einspruch formulieren – getrieben von dem Gefühl, dass die Regierung nicht oder falsch handelt und die Opposition ihre Rolle als Korrektiv nicht wahrnimmt. Das gilt für die Klima- wie die Bauernproteste. Gleichzeitig gibt es aber wichtige Unterschiede zwischen den zwei Gruppen.

Welche?

Das fängt schon damit an, dass die jetzt protestierenden Bauern sich zunächst einmal für ihre eigenen Interessen einsetzen und sagen, dass die angekündigten Reformen für sie eine unzumutbare Belastung darstellen. Natürlich gibts auch darüber hinausgehende Argumente, etwa, die Landwirtschaft werde als wichtiges Element des gesamt­gesellschaftlichen Wohlergehens nicht hinreichend respektiert und gefördert. Aber primär scheint die Motivation schon zu sein: Uns gehts an den Kragen, dagegen wehren wir uns.

Und bei den Klimaprotesten?

Dort wird von vornherein ein normativer moralisch-politischer Horizont angeführt, der die eigenen Interessen übersteigt. Zwar geht es auch ums eigene zukünftige Wohlergehen vor allem der jungen Leute, aber eben auch um Klimagerechtigkeit und die von der Regierung selbst eingegangenen Verpflichtungen. Diese ergeben sich aus der Pflicht des Staats, auch die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zu schützen. Ein weiterer Unterschied liegt in den Reaktionen auf den Protest.

Inwiefern?

Die Klimaproteste wurden stark delegitimiert. Die meisten Parteien, vor allem jene von konservativ bis rechts, aber auch die Liberalen, haben extrem polemisch reagiert auf Proteste, die sich ja im Rahmen des zivilen Ungehorsams hielten; diese wurden in die Nähe von Terrorismus und Organisierter Kriminalität gerückt. Man sagte, es müsse mit der vollen Härte des Gesetzes durchgegriffen werden. Der meines Erachtens legitime Protest der Klimabewegung wurde damals auf eine für eine Demokratie höchst problematische Weise attackiert und kriminalisiert.

Und bei den Bauern?

Dieselben Politiker, teils auch dieselben Medien zeigen nicht nur grosses Verständnis, sondern spielen auch die teils viel aggressiveren Auftritte und die viel aggressivere Rhetorik herunter. Das halte ich für politisch gefährlich, auch weil doppelte Standards eine demokratische Kultur infrage stellen. Eine Traktorblockade ist ja schon aufgrund der Massivität der Fahrzeuge weniger friedlich, als wenn man passiv und schutzlos auf der Strasse sitzt. Und jetzt sprechen wir noch gar nicht von den Galgen und Parolen, die bei den Bauernprotesten teils dabei waren. Wobei ich das Verständnis für den Protest prinzipiell befürworte.

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Geht die Zustimmung nicht sogar quer durch verschiedenste Bevölkerungs- und Berufsgruppen?

Es scheint sich wirklich eine Art gesellschaftsweiter Unmut aufgestaut zu haben. Wir konstatieren Frustration und mangelnde Kompromissbereitschaft. Viele begehren auf und wollen vorderhand im demokratischen Spiel so nicht mehr mitmachen.

Das ist eine erschreckende Analyse.

Man darf sie auch nicht überspitzen. Ein gewisser Unmut, der sich in Protest und Aufbegehren niederschlagen kann, gehört zur Demokratie und darf zum Glück auch artikuliert werden bei uns. Aber bestimmte Teile der Gesellschaft, auch Randgruppen, haben über Social Media lautstark die Meinung verbreitet, dass wir in einer Diktatur lebten und die Eliten uns verraten hätten. Diese Narrative kennen wir aus den USA. Manche Leute entkoppeln sich immer weiter von der Realität, das haben wir auch bei Corona gesehen. Ich beobachte mit grosser Sorge, dass auch einige politische Akteure in Europa mit diesem Feuer spielen.

Warum tun sie das?

Teils aus strategischen Gründen, teils aus Ratlosigkeit. Ja, es gibt Herausforderungen, aber diese so übertrieben zu artikulieren und etwa mit einer falschen Skandalisierung von Migration zu verbinden, ist manipulativ und gefährlich. Länder wie Deutschland und die Schweiz sind in einer sehr stabilen und auch wirtschaftlich komfortablen Lage. Insgesamt belegen Umfragen auch durchaus eine Zufriedenheit mit den demokratischen Institutionen. Leider wird der gesellschaftliche und mediale Diskurs immer wieder stark von bestimmten Extrempositionen am rechten Rand bestimmt: Manche wollen einen Ausnahmezustand herbeireden. Das viel diskutierte Geheimtreffen, an dem deutsche und österreichische Politiker jüngst die Idee der «Remigration» diskutierten, ist ein Beweis dafür, dass es offen autoritäre, antidemokratische Kräfte selbst in den etablierten Parteien gibt. Sie instrumentalisieren den Unmut. Dass sich dagegen jetzt so breiter Widerstand formiert und Hunderttausende in ganz Deutschland protestieren, ist ermutigend.

Handelt es sich nicht um freie Meinungsäusserung und, gegebenenfalls, um legitimen zivilen Ungehorsam, wenn bestimmte demokratische Normen hinterfragt werden?

Protest gehört zentral zur Demokratie – aber nicht jeder Protest ist gleichermassen legitim und auch nicht gleichermassen für die Demokratie förderlich.

Die Polizei setzt Wasserwerfer und Gummischrot ein, am Mittwoch, 23. September 2021, in Bern. Die Kantonspolizei Bern wappnet sich gegen eine unbewilligte Kundgebung von Coronamassnahmen Gegner und will diese unterbinden. (KEYSTONE/Peter Schneider)

Aber wer entscheidet das?

Zugegeben, in unserer Demokratie laufen Dinge schief. Es gibt Repräsentationsdefizite, Demokratiedefizite, wohl selbst in der Schweiz; und deshalb sind auch heute noch soziale Bewegungen notwendig – um bisher ausgeschlossene Positionen in den Diskurs einzuspeisen und bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen. Wieso gibts kein Tempolimit auf der deutschen Autobahn, obwohl eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dafür ist? Die Autolobby ist zu stark. Mit widerständigen Bewegungen können solche Blockaden aufgelöst oder wenigstens angegangen werden, die durch Lobbyismus, Trägheit oder das Schielen auf die nächste Wahl entstanden sind. Aber bei der Bewertung der Bewegungen muss am Anfang die Frage stehen: Was ist die Ausgangsdiagnose?

Die Ausgangsdiagnose?

Man schaue genau hin: Wird eine Position tatsächlich nicht repräsentiert? Gibt es wirklich ein Blockadeproblem? Wenn Leute in den USA das Capitol stürmen mit der Behauptung, die letzte Wahl wurde gestohlen, muss man einfach sagen, das ist keine überzeugende Ausgangsdiagnose. Das heisst, die Legitimität dieses Protests ist von vornherein deutlich schwächer als etwa beim Klimaschutz. Denn alle Klimaexperten sind sich einig: Wir müssen viel mehr tun. Das hat eine ganz andere Evidenzbasis. – Und schliesslich kommt es auf die Gestalt des Protests an.

Was heisst das?

Man muss untersuchen, ob der Protest selbst demokratisch organisiert ist. Ist er streng hierarchisch organisiert, folgt man einer Führerfigur? Oder ist er inklusiv und lernfähig? Welche Mittel werden eingesetzt? Wird Gewalt gegen Personen angewendet? Schliesslich: Was sind die Ziele? Will man mehr Demokratie, mehr Rechte für alle? Oder will man bestimmte Leute ausschliessen? Will man, dass der demokratische Raum sich verengt? Letzteres ist vielleicht der wichtigste Aspekt für die Beurteilung der Legitimität von Protest. Will ich, dass etwa auch die Rechte von Frauen, Minderheiten oder jungen Menschen Berücksichtigung finden – oder eher das Gegenteil?

Ist ziviler Ungehorsam für Sie unauflöslich mit demokratischen Bestrebungen verknüpft?

Auf jeden Fall. Das ist das Erbe von Gandhi, Martin Luther King und vielen anderen.

Supporters of President Donald Trump climb the west wall of the the U.S. Capitol on Wednesday, Jan. 6, 2021, in Washington. (AP Photo/Jose Luis Magana)

Nicht nur in den USA haben viele den Glauben an die Demokratie verloren – und halten gesetzesbrecherischen Ungehorsam für eine legitime Protestform. Beispielsweise Staatsverweigerer wie die Reichsbürger.

Das stimmt. Aber in der Idee des zivilen Ungehorsams steckt etwas, das eine demokratische Richtung vorgibt. Nicht nur aufgrund der Geschichte dieser Praxis, sondern auch wegen des Begriffs des Zivilen an sich. Wenn Neonazis eine Unterkunft für Geflüchtete in Brand setzen, ist das kein ziviler Ungehorsam. Das Zivile bedeutet, dass man sich zwar auf kontroverse, auch sehr konflikthafte politische Auseinandersetzungen einlässt, dass man den Gegner aber auch als legitimen Gegner anerkennt, trotz der Differenzen. Dass man ihn nicht vernichten will, nicht ausschliessen möchte aus der politischen Gemeinschaft. Fantasien vom bewaffneten Aufstand oder von gewaltsamen Vertreibungen bedeuten, dass man sich von jeder legitimen Form des Einspruchs verabschiedet hat.

So radikal sind die Bauernproteste nicht. Trotzdem waren sie teils sehr heftig. Dabei hat das Höfesterben sich verlangsamt, und den Bauern gings in den letzten Jahren sogar besser.

Die geplante Reduktion mancher Subventionen war ein Anlass für Protest, und solche Anlässe braucht es, um einen Mobilisierungseffekt zu haben. Grundsätzlich aber belastet der Strukturwandel die Landwirtschaft seit langem, obwohl die letzten Jahre ganz gut liefen.

Aber wieso hat das Entgegenkommen der Regierung nichts gebracht?

Man wollte disruptiv sein, den Alltag stören – und damit den Druck auf die Politik noch erhöhen. Wenn Sie, wie die Bauern, androhen, das gesamte Land lahmzulegen, ist das natürlich ein anderer Hebel, als wenn sich eine kleine Gruppe an ein Ministerium kettet. Darum hat die Regierung gleich am Anfang, fast vorauseilend, einen grossen Teil der Reformen wieder zurückgefahren. Doch genau da hat sich eben gezeigt, dass der Unmut viel tiefer gründet.

«Der Mut zu echten politischen Visionen scheint versiegt.»

Robin Celikates

Was tun?

Man muss die Parallelen nicht überstrapazieren, aber in der Krise der 1920er- und 30er-Jahre operierte die Rechte auch mit Pseudolösungen und Sündenböcken. Heute schiebt man irgendwelchen «linken Eliten» in Zusammenhang mit Geflüchteten und Migrantinnen die Schuld zu. Und da macht es mich sehr nervös, wenn die etablierten Parteien, also in Deutschland CDU und CSU, aber durchaus auch SPD und FDP, auf diesen Druck von rechts mit viel zu viel Entgegenkommen und der Übernahme rechter Rhetorik und Politik reagieren. Diese Strategie ist kreuzverkehrt! Denn damit gibt man diesen antidemokratischen Angriffen recht, und die Leute wählen dann lieber das «Original». Stattdessen müsste man reale Lösungsansätze entwickeln für eine sozial gerechte, solidarische, zukunftsorientierte Politik.

Sehen Sie solche Ansätze?

Leider kaum, der Mut zu echten politischen Visionen scheint versiegt. Man schraubt fantasielos an Details herum wie ein paar Euro mehr Kindergeld. Da hat die Linke in den letzten Jahrzehnten leider versagt. Dabei wäre ein neues solidarisches Modell ein wichtiger Bestandteil, um die Demokratie zu stabilisieren. Hoffentlich führt die jetzige Protestwelle zu mehr politischem Mut.