Österreichs Hauptstadt mal andersRaus aus dem Ring, rein ins hippe Wien
Sisi, Barock und Paläste. Wiens touristisches Zentrum mit seinen Menschenmassen wirkt überhitzt. Nur ein paar Strassen weiter ist die Stadt anders: alternativ, kreativ und cool.
«Verlasse den Ring!» Es klingt wie eine Beschwörung, als Basti Knöbel vom anderen Wien erzählt. Von der Stadt jenseits der ringförmigen Strasse, die die Innenstadt mit ihren Palästen und Touristenmassen vom Rest trennt.
Basti Knöbel ist ein junger Reiseführer, der den Besuchern das Wien fernab von Barock und Sisi zeigen will. Dort, wo Alltag herrscht. Menschen zur Arbeit gehen, Melange, Milchkaffee am Vormittag und ein Seiterl, ein kleines Bier, am Abend trinken.
In diesen Stadtvierteln, Grätzln genannt, haben die Häuser keine grosszügigen barocken Fensterfronten, sie sind aber älter. In diesen Grätzln bringt der Osten Farbe rein und zeigt, dass Wien schon immer eine Schnittstelle zwischen Weltregionen war.
Basti Knöbel sitzt im Café Anzengruber, einem dieser vor Wiener Schmäh triefenden Wirtshäuser im Freihausviertel und sagt: «Das reale Wien – das ist meine Mission.» Er könnte auch sagen: mein Geschäft.
Zusammen mit seiner Schwester Gabi hat der 32-Jährige vor vier Jahren Rebel Tours gegründet. Die Geschwister haben sich dabei von Kollegen in Lissabon inspirieren lassen, die einen noch radikaleren Namen gewählt haben für ihre Sightseeing-Touren: «We hate Tourism». Wir hassen Tourismus.
31 Prozent mehr Übernachtungen
Touristiker gegen Massentourismus. Es ist eine Reaktion auf die stets grösser werdenden Menschenmassen, die nicht nur die portugiesische Hauptstadt heimsuchen. Auch die österreichische Metropole mit ihren 1,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern wird immer beliebter. 17,3 Millionen Übernachtungen hat die Stadt im Jahr 2023 verzeichnet: Das ist ein Plus von 31 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2024 wird diese Zahl nochmals übertroffen.
So versucht die österreichische Hauptstadt wie Amsterdam oder Barcelona, die neuralgischen Punkte, die Touri-Hotspots zu entlasten. Es gibt auf der offiziellen Website wien.info gar ein Konzept dazu, Heartbeat Streets heisst es. Besucherinnen und Besuchern sollen über den 1. Bezirk hinauskommen. Statt nur Schloss Schönbrunn, Hofburg und Stephansdom werden sie auf alternative Orte in der Stadt hingewiesen.
Zum Beispiel auf das Yppenviertel im 16. Bezirk, wo Hipster neben türkischen und arabischen Familien durch den mit 170 Ständen grössten Strassenmarkt der Stadt schlendern. Das entspannte Stuwerviertel an der Donau, für das man den Prater, diese berühmte Vergnügungsmeile, links liegen lassen muss.
Oder das Karmeliterviertel im 2. Bezirk, wo neben einer jüdischen Gemeinschaft viele Kreative wohnen, die auf dem Wochenmarkt für viel Umsatz bei Fairtrade- und Bioprodukten sorgen.
Kurz: Die Touristen sollen den Ring verlassen.
Basti Knöbel und seine «etwas anderen Touren» passen perfekt in dieses Konzept von Wien Tourismus. Entsprechend läuft das Geschäft der Geschwister. Sie sind ständig ausgebucht.
Der Touristenführer ist eine Frohnatur und seine Begeisterung für Wien ansteckend. Während er im Café Anzengruber bei einem Soda mit Zitrone sitzt, breitet er seine Arme aus, zeigt auf die dunklen Holzverkleidungen, den Billardtisch und sagt: «Das Anzengruber ist aus den 1940er-Jahren und war schon immer ein Treffpunkt der Stadt. Punks, Politiker und Literaten, alle kommen hierher und essen ihr Schnitzel oder das legendäre Gulasch. I love it!» Das legendäre Anzengruber ist Knöbels Ausgangspunkt für eine Tour durch das Grätzl.
Mozart ist auch da
Den nahen Karlsplatz lassen wir aus. Dort steht zwar das hervorragende, erst im letzten Herbst neu eröffnete Wien-Museum. Gleich daneben ist aber die Kirche, vor der als Mozart verkleidete Eintreiber stehen und Touristen ins Vivaldi-Konzert locken. Es wird fünfmal pro Woche aufgeführt.
Wir tauchen ins Grätzl ein, gehen vorbei an spleenigen Secondhandläden, Galerien mit schräger Kunst und gelangen an eine Wiener Institution. Das Filmcasino, ein Lichtspieltheater von 1911. Im Entree ist die Zeit stehen geblieben, gezeigt werden heute aber zeitgeistige Independent-Filme. Ein Plakat verweist auf ein Queerfestival. Die Fussgängerstreifen im Viertel sind bereits in den entsprechenden Regenbogenfarben gehalten.
In den Strassen drumherum reihen sich viele Bars und Restaurants aneinander. Bei den neapolitanischen Casalaro Brothers trifft sich im Moment gerade die Wiener Jugend zum Aperol Spritz. In der nahen Gorilla Kitchen gibts schnelle und gute Burritos, gleich gegenüber verbindet der ambitionierte chilenische Koch Diego Briones Südamerika kulinarisch mit Tirol.
Wien sei mehr als Schnitzel, sagt Basti Knöbel. «Es gibt so unfassbar viele gute Restaurants hier. Sie sind überall, in allen Grätzln.»
Stadtgespräch ist derzeit die Cucina Itameshi an der Praterstrasse. Das Anfang Jahr im majestätischen Dogenhof eröffnete Lokal bringt die italienische mit der japanischen Küche zusammen.
Oder da ist das kleine Weinbistro Mast im Servitenviertel. Zwei Sommeliers und ein junger Koch haben sich zusammengetan und servieren gehobene Marktküche, dazu hat das Trio eine phänomenale Bioweinkarte.
Wien ist gross. Knapp 1,9 Millionen Menschen leben auf 415 Quadratkilometern, fast fünfmal mehr als in Zürich. Wer die zum Teil weit auseinander liegenden Stadtteile erkunden will, nimmt am besten die U-Bahn. Oder mietet sich ein Velo. Wien lässt sich damit gut erkunden. Das Streckennetz für Zweiräder wird stetig ausgebaut. Das lässt sich direkt im Gusshausviertel beobachten.
Die Argentinierstrasse, die Hauptader des Viertels, wird in diesem Jahr in eine verkehrsberuhigte Veloroute umgebaut.
Oder man macht es wie Basti Knöbel, der stets hochtourig zu Fuss unterwegs ist und auf eine Eigenheit Wiens baut: die sogenannten Durchhäuser. Sie bieten einen Durchgang zwischen zwei parallel verlaufenden Strassen. Es gibt Dutzende davon in der Stadt. Doch nur wer genau schaut, entdeckt die kleinen Schilder, die auf einen Passageneingang hinweisen.
Um die Stadt zu entdecken, muss man gemäss Tourguide Basti Knöbel also nicht nur den Ring kennen, sondern auch auf die Schilder achten. Sie weisen den Weg ins richtige Wien.
Fehler gefunden?Jetzt melden.