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Parteitag der deutschen Grünen
Wie radikal darfs denn sein?

Der Parteitag wird zum Stresstest: Die 40-jährige grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock.
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Die deutschen Grünen sind eine leidenschaftliche Programmpartei. Tagelang können sie über einzelne Sätze, Wörter oder Spiegelstriche streiten, wie wenn ihr Wahlerfolg ganz davon abhinge. Doch was dieses Wochenende geschehen wird, haben selbst die Grünen in ihrer 40-jährigen Geschichte noch nicht erlebt.

3280 Änderungen des 137-seitigen Programms für die Bundestagswahl im Herbst wurden beantragt – ein einsamer Rekord. In vielen Anträgen geht es nur um einzelne Formulierungen, Ergänzungen oder Gendersternchen, in Hunderten aber auch um zentrale Programmpunkte.

Wahlrecht ab 14 Jahren, Verdoppelung des CO₂-Preises

Der Tenor der Forderungen ist klar: Das Programm soll linker, schriller, in einem Wort: radikaler werden. Auf dem Wunschzettel stehen etwa ein CO₂-Preis von 120 statt 60 Euro, ein Verbot neuer Verbrennungsmotoren schon 2025 statt 2030, ein Verbot jedes Autobahnbaus, Tempo 30 innerorts und 100 auf Autobahnen, ein Mindestlohn von 15 statt 12 Euro pro Stunde, eine Jobgarantie für Arbeitslose in der Industrie, Lohnobergrenzen, höhere Spitzensteuersätze oder Arbeitslosengelder.

Dazu noch ein Verbot bewaffneter Drohnen, eine Halbierung der weltweiten Rüstungsausgaben, ein Abschiebeverbot für Flüchtlinge aus Afghanistan, ein Mietendeckel für Grossstädte, die Enteignung von Immobilienkonzernen sowie ein Wahlrecht ab 14 statt ab 16 Jahren. Schliesslich soll noch das Wort «Deutschland» aus dem Titel des Programms gestrichen werden: Den Grünen gehe es schliesslich um Menschen, nicht um die Nation.

Viele Anträge stammen von Neumitgliedern und bekannten Fridays-for-Future-Aktivisten wie dem 20-jährigen Jakob Blasel, der in Schleswig-Holstein kandidiert, andere von traditionell linken Ortsverbänden wie dem aus Berlin-Kreuzberg. Die Grünen sind in den letzten Jahren stark gewachsen, die Mitgliederzahl hat sich seit 2015 auf 115’000 verdoppelt. Der Erfolg hat Hoffnungen und Begehren geweckt, die Neuen wollen nicht nur dabei sein, sondern mitreden.

Sie formten die neuen deutschen Grünen: Annalena Baerbock und Robert Habeck beim letzten digitalen Parteitag im November. 

Doch die Parteispitze um Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Co-Chef Robert Habeck wehrt sich mit Händen und Füssen gegen die beantragte Radikalisierung. Ihr bisheriges Erfolgsrezept bestand ja gerade darin, nicht die «Ökos» in der eigenen Blase zu streicheln, sondern jene Menschen in der bürgerlichen Mitte zu umwerben, die bisher noch nicht grün wählten.

Erst diese Neuausrichtung und der im Vergleich zu früher weniger moralische und ideologische Ton hatten die Grünen in den Umfragen über 20 Prozent steigen lassen und zum Konkurrenten Nummer 1 der Christdemokraten gemacht. Eine Verschärfung kurz vor der Wahl wäre aus Baerbocks Sicht pures Gift.

«Klima retten muss nicht wehtun» – auf dieses Signal kam es Baerbock und Habeck zuletzt an.

Zur «mittigen» Botschaft der neuen Grünen passte, dass sie ambitioniert, ja revolutionär klingende Ansagen im Allgemeinen bisher mit auffallend vagen Forderungen im Konkreten verbanden. «Klima retten muss nicht wehtun» – auf dieses Signal kam es ihnen an.

Die Grünen, die in früheren Wahlkämpfen mit Forderungen wie «5 Mark pro Liter Benzin» (1998) und «Veggie-Day» (2013) das Volk in der Mitte quasi vorsätzlich vertrieben hatten, inszenierten sich nun als Partei der Chancen statt Verbote. Die Zumutungen verbarg man lieber, von Verzicht war kaum die Rede. «Fürchtet euch nicht», rief Baerbock beim letzten Parteitag Deutschland zu: Die Klimarevolution sei «in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag».

Schon wieder der Benzinpreis!

Welche Gefahr droht, sobald es konkret wird, hat Baerbock gerade schmerzhaft erfahren. Um 16 Cent werde der Liter Benzin teurer, falls der CO₂-Preis bis 2023 wie gefordert auf 60 Euro pro Tonne steige, sagte die 40-Jährige – und löste damit einen tagelangen Sturm der Empörung aller politischen Konkurrenten und vieler Medien aus.

Die Aufregung war im Kern heuchlerisch, weil die anderen Parteien nicht nur ähnliche Pläne haben, sondern auch verschwiegen, dass die Grünen den Menschen die Mehrkosten über ein «Energiegeld» zurückerstatten wollen. In den Umfragen machte sich die Debatte dennoch gleich als Delle bemerkbar.

Mal Wind von hinten, mal von vorn: Annalena Baerbock Ende Mai im Wahlkampf in Sachsen-Anhalt.

Baerbock und Habeck setzten in den vergangenen Wochen jedenfalls alle Hebel in Bewegung, um die radikalen Forderungen der Basis abzuwehren oder abzumoderieren. Zeitweise war der gesamte Apparat der an Personal immer noch kleinen Partei durch die Aufgabe absorbiert.

Für mehr als 3200 Anträge fand die Parteispitze eine für beide Seiten annehmbare Lösung. Viele Forderungen wurden zurückgezogen, harmlosere übernommen, bei wichtigen Themen fand man Kompromisse. Dennoch kommt es am digitalen Parteitag, der von Freitag bis Sonntag dauert, zu bis zu 50 Kampfabstimmungen.

Eine Niederlage beim Wort «Deutschland» im Titel des Wahlprogramms hätte einige Symbolkraft.

Die Streitpunkte bleiben gewichtig, auch wenn die Kluft zwischen den Wünschen der Basis und den Plänen der Parteispitze geschrumpft ist: Ein CO₂-Preis von 80 statt 60 Euro? Ein Mindestlohn von 13 statt 12 Euro? Ein Spitzensteuersatz von 53 statt 48 Prozent? Generalsekretär Michael Kellner erwartet jedenfalls das «intensivstdiskutierte Wahlprogramm unserer Geschichte».

Um das bei manchen linken Grünen verpönte Signalwort «Deutschland» wird ganz am Schluss gestritten. Die Position der Führung ist klipp und klar: Habeck plädierte schon 2010 in einem Buch für einen «linken Patriotismus», die erste politische Sommerreise stellten Baerbock und er unter den nationalhymnischen Titel «Des Glückes Unterpfand». Eine Niederlage in dieser Frage hätte also einige Symbolkraft.