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Verbesserungen für Kranke
Wie Forschende die Krise im Gesundheitswesen lösen würden

Der Zürcher Epidemiologie-Professor Milo Puhan leitet das Nationale Forschungsprogramm (NFP) 74.

Explodierende Prämien, zu wenig Medikamente, Pflegende, Haus- und Kinderärzte, zu viele Patientinnen und Patienten – im Schweizer Gesundheitswesen herrscht zurzeit Krisenstimmung. Man stehe am Rande des Zusammenbruchs, warnte am Wochenende der oberste Notfallmediziner Vincent Ribordy. Und der profilierte Ex-Chefarzt Daniel Scheidegger sagte unlängst dieser Zeitung: «Wir fahren unser Gesundheitswesen an die Wand.»

Der Zeitpunkt für konstruktive Lösungsvorschläge könnte deshalb kaum besser sein. Solche präsentierte am Donnerstag der Zürcher Epidemiologie-Professor Milo Puhan vor den Medien. Er leitet als Präsident der Leitungsgruppe das soeben abgeschlossene Nationale Forschungsprogramm «Gesundheitsversorgung» (NFP 74), welches der Bundesrat beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) in Auftrag gegeben hatte.

Doppelspurigkeiten und Überdiagnostik verhindern

Während fünf Jahren untersuchten Forschende in 34 Projekten reale Abläufe im Gesundheitswesen und erprobten konkrete Verbesserungen in der Praxis. Im Fokus standen dabei Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten, von denen es künftig noch mehr geben dürfte. Bereits heute hat jeder Fünfte über 50 mehrere chronische Leiden wie Krebs, Diabetes, Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Auch psychische Störungen wie Depressionen nehmen zu. «Der Fokus verschiebt sich von der Akut- auf die Langzeitmedizin und -pflege», heisst es im Synthesebericht des NFP 74. Von den Vorschlägen profitieren würden jedoch auch andere, nicht chronisch kranke Patientinnen und Patienten.

Die Vorschläge zielen nicht – wie sonst oft üblich – auf einen Ausbau des Angebots bei Medizin, Therapie oder Pflege.

Die wichtigsten Forderungen:

  • Effizienz: Zunehmende Spezialisierung und Fragmentierung bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten generieren immer mehr Schnittstellen, die zu Doppelspurigkeiten, Überdiagnostik oder Versorgungslücken führen. Deshalb sollen der Austausch und die Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden und anderen Fachpersonen sowie zwischen Gesundheitseinrichtungen verbessert werden. 

  • Grundversorgung: Angebote im Studium und eine attraktive Facharztausbildung sollen die Attraktivität der Hausarztmedizin fördern. Gleichzeitig braucht es eine Stärkung der Pflege und der anderen nicht ärztlichen Gesundheitsberufe in der Grundversorgung – beispielsweise durch mehr Kompetenzen von Pflegefachpersonen in Heimen.

  • Patientinnen und Patienten: Sie sowie ihr familiäres und soziales Umfeld sollen bei Entscheidungen und der Behandlung noch stärker einbezogen werden. Gleichzeitig muss ihre Gesundheitskompetenz gefördert werden.

  • Politik und Behörden: Neue Versorgungsmodelle, wie sie unter anderem im Rahmen des NFP 74 getestet wurden, sollen einfacher Verbreitung finden. Gesundheitsdaten müssen besser für die Forschung zugänglich werden.

Die Lösungsansätze des NFP 74 kommen betont positiv daher. Puhan spricht von einer «smarteren» Gesundheitsversorgung, die möglich sei. Kritik an der gegenwärtigen Situation findet sich nur zwischen den Zeilen. Etwa wenn im Synthesebericht erwähnt wird, dass eine verstärkte Koordination und Integration der Gesundheitsversorgung eigentlich seit den 1990er-Jahren ein Anliegen sei.

Keine Paradigmenwechsel nötig

Die Forschenden fordern dabei nicht primär mehr Geld, sondern einen Kulturwandel: Der effizientere Einsatz der menschlichen Ressourcen setze auf allen Ebenen des Gesundheitssystems ein Umdenken voraus, schreiben sie. Ihre Vorschläge zielen nicht – wie sonst oft üblich – auf einen Ausbau des Angebots bei Medizin, Therapie oder Pflege. Auch eine noch höhere Spezialisierung und weitere finanzielle Ressourcen stünden nicht im Fokus. Und es gehe nicht darum, «mit komplett neuen Ansätzen oder Paradigmenwechseln» zu überraschen.

Die verschiedenen Projekte im Rahmen des NFP 74 widmeten sich allerdings nicht nur unmittelbaren Verbesserungsansätzen für das Gesundheitswesen. Es wurden auch andere Fragestellungen bei der Versorgung beleuchtet, zum Beispiel:

  • Ein Forschungsteam untersuchte die grossen regionalen Unterschiede bei Operationen, die oft auf die persönlichen Präferenzen der Behandelnden zurückzuführen sind. So fanden sich bei den häufig durchgeführten Gebärmutterhals-Entfernungen auffällige Differenzen bei der Häufigkeit und der gewählten Operationsmethode.

  • Ein weiteres Projekt analysierte die Gründe, wieso impfkritische Eltern sich eher von Homöopathen als vom Hausarzt vom Impfen überzeugen lassen.

  • Andere Forschende beschäftigten sich mit medizinischen Behandlungsempfehlungen, die Ärztinnen und Ärzten eine Hilfestellung sein sollten. Die Qualität der Leitlinien ist allerdings oft durchzogen, was überraschenderweise aber kaum Auswirkungen darauf hat, wie gut sie eingehalten werden.

Die Erkenntnisse des NFP 74 sollen Konsequenzen haben. Zumindest erhoffen sich das die Forschenden. «Wir erleben grosses Interesse vonseiten der Kantone und des Bundes», sagte Puhan vor den Medien. Beide seien während des ganzen Programms einbezogen worden. Weitergehen soll es auch mit Studien, die untersuchen, wie Patientinnen und Patienten im realen Leben medizinisch versorgt werden. Solche Versorgungsforschung hat ihren Weg in die Schweiz erst vor etwas mehr als zehn Jahren gefunden. In anderen Ländern hat sie schon lange ihren Platz.