Videodoku über Natallia HerscheDie Schweizerin im Foltergefängnis
Natallia Hersche ist das Symbol des weissrussischen Widerstands. Eine ehemalige Mitgefangene erzählt von der brutalen Haft – und wie sich Hersche gegen Wärter auflehnte.
Jelena Leutschanka dreht den Spiess gleich um. Zu Beginn des Interviews stellt die weissrussische Basketballspielerin und Regimekritikerin selbst die Fragen: «Wo ist die Hilfe der Schweiz?», fragt Leutschanka, die heute im Exil in Griechenland lebt: «Was macht ihr eigentlich, ausser dass der Botschafter Natallia im Gefängnis besucht?»
Leutschanka sorgt sich um die Schweizerin Natallia Hersche, die in Belarus zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie im September 2020 in Minsk an Protesten gegen die Wahlfälschung durch den Diktator Alexander Lukaschenko teilgenommen hatte.
Viermal in andere Gefängnisse verlegt
Eine Zeit lang sassen Hersche und Leutschanka in derselben Zelle. Denn auch die prominente Sportlerin, die das weissrussische Basketballteam zweimal zu Olympischen Spielen geführt hatte, wurde wegen ihrer Teilnahme an Demonstrationen ins berüchtigte Minsker Gefängnis Okrestino gesperrt. Leutschanka kam nach 15 Tagen wieder frei, konnte das Land verlassen. Hersche sitzt immer noch, wurde seither viermal in andere Strafanstalten verlegt (diese Zeitung berichtete).
Um Hersches Freilassung zu erreichen, brauchte es viel mehr Druck auf die weissrussische Regierung, fordert Leutschanka. Und auch finanzielle Unterstützung, etwa für Hersches Bruder Gennadi Kasjan, der sich unermüdlich für seine Schwester einsetzt, ihr Briefe schreibt, Pakete schickt. «Aber ich sehe keinen Support der Schweiz», ärgert sich Leutschanka.
Sie habe versucht, mit René Fasel Kontakt aufzunehmen, dem ehemaligen Schweizer Präsidenten des Internationalen Eishockeyverbands, der besonders gute Beziehungen zu Lukaschenko und seinem Umfeld hat. Doch Fasel habe auf die Mail nicht einmal reagiert. «Was wird also getan, um Hersche zu helfen? Auch die Medien? Das macht mich zornig.»
Mehrere Tausend Demonstrantinnen und Demonstranten wurden im Herbst 2020 im Gefängnis Okrestino festgehalten. Sie berichteten danach von psychischer und physischer Folter, von Prügelorgien und Demütigungsritualen. Diese Berichte werden durch Tonaufnahmen und Fotos belegt, die auch im Video von Tamedia zu sehen sind.
«Natallia hält sich für unschuldig und wird niemals um Gnade bitten.»
In derselben Zelle sass Natallia Hersche. Und sie habe grossen Mut gezeigt. Leutschanka erinnert sich an einen Moment, als die Wachen mit Schlagstöcken in die Zelle kamen und die Frauen aufforderten, sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen: «Dann fragte eine der Wachen, ob denn alles in Ordnung sei in der Zelle. Wir waren viel zu nervös, um zu reagieren. Nur Natallia drehte sich um und beklagte sich über das Essen. Und wir anderen dachten uns: «Oh Gott, was macht die da?» Zur Überraschung aller zogen die Wachen jedoch einfach ab. Leutschanka erkannte damals, «dass Natallia immer aufstehen wird, wenn sie etwas als unfair empfindet».
Hersches Haltung wird auch von ihrem Bruder Gennadi Kasjan im Interview mit dieser Zeitung bestätigt: Natallia halte sich für unschuldig und werde deshalb niemals bei Lukaschenko um Gnade bitten, erklärt Kasjan: «Sie sagte zu mir, dass sie damit einverstanden sei, ihre Strafe bis zum Schluss abzusitzen.» Hersche wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, sie würde also regulär erst Ende Januar 2023 aus der Haft entlassen.
Weil ein Gnadengesuch für Hersche nicht infrage komme, «suchen wir nun, ob es Spielraum für eine politische Lösung gibt», sagt Johannes Matyassy, stellvertretender Staatssekretär beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten. Deshalb sei es auch so wichtig, den Kontakt zu Vertretern der belarussischen Regierung zu pflegen, so Matyassy: «Weil, ob wir das wollen oder nicht: Sie sind an der Macht und entscheiden, ob Frau Hersche freikommt.»
Die Erkenntnis, dass es in Belarus keinen funktionierenden Rechtsstaat mehr gebe, war für Jelena Leutschanka während ihrer Haft belastender als alle anderen Widrigkeiten: «Weil wir nicht wussten, was uns erwartet.» Zu Beginn sei sie deshalb in Panik geraten, erzählt die 38-jährige Sportlerin via Zoom aus ihrem griechischen Exil.
Jelena Leutschanka fürchtete, sie würde das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen. «Aber irgendwann realisierte ich: Sie haben nicht alle Macht über mich. Sie können zwar darüber entscheiden, ob ich hier bin, ob ich eine Matratze oder heisses Wasser habe. Aber sie können nicht meine Gedanken kontrollieren oder worüber ich mit meinen Mitinsassinnen spreche. Das war das Wichtigste für mich.»
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