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Schweizer Freundschaftsstudie
Wie Schweizerinnen und Schweizer ihre Freundschaften pflegen

Romands unterhalten offenbar die meisten engen Freundschaften: 4,3 sind es im Schnitt. Deutschschweizer hingegen nur 3,9.
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Dieser Artikel erschien erstmals im August 2024. Für die Feiertage ergänzen wir unser Angebot. Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre.

Diabetes, Depressionen, Demenz – nach der Corona-Pandemie bleiben die herkömmlichen Volkskrankheiten. Eine, die dabei oft vergessen geht, aber sehr verbreitet ist: Einsamkeit. Weltweite Zahlen liegen keine vor, aber für die Schweiz erfasst das Bundesamt für Statistik ein zunehmendes Gefühl der Einsamkeit in der Schweizer Bevölkerung: Im Jahr 2007 lag der Anteil Menschen im Land, die sich manchmal oder oft einsam fühlten, bei 30 Prozent, 2017 waren es 39 Prozent und 2022 bereits 42 Prozent.

Einsamkeit schlägt auf die Gesundheit – und was dagegen hilft, sind Kontakte mit Verwandten, Partnerinnen und Freunden. Das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) hat sich nach seiner grossen Nachbarschaftsstudie aus dem letzten Jahr an die Vermessung der Schweizer Freundschaften gemacht: Mit qualitativen Interviews in Fokusgruppen, einer quantitativen Umfrage mit 3000 Personen aus der deutschen, italienischen und französischen Schweiz sowie einer Interventionsstudie, in der Probandinnen bei Experimenten in ihrem Bekanntenkreis begleitet wurden.

Wir haben zusammengefasst, was die Studienautoren über gelungene Freundschaften herausgefunden haben – und die Erkenntnisse mit Bemerkungen von Sozialpsychologe und Studienleiter Jakub Samochowiec ergänzt.

Wie «freundlich» sind wir Schweizer?

Es gibt diesen Versuch mit dem Portemonnaie. Die Universität Zürich untersuchte vor ein paar Jahren in einer Studie die Rückgabequoten von verlorenen Portemonnaies in 40 verschiedenen Ländern. In der Schweiz wurden demnach drei von vier verlorenen Portemonnaies ihrer Besitzerin zurückgeführt. Schweizerinnen und Schweizer nehmen also viel Aufwand in Kauf, um einer unbekannten Person zu helfen.

Hätten Sie es zurückgebracht? Die Schweiz hat eine der höchsten Rückkehrraten für verlorene Portemonnaies.

Die Studie bringt dieses Engagement mit der Einfachheit, Freunde zu finden, in Verbindung. Die Länder mit der höchsten Rückkehrrate (Schweiz, Dänemark, Norwegen, Niederlande) sind auch Orte, an denen es gemäss Zugezogenen nicht ganz einfach ist, Freunde zu finden. In einem entsprechenden Ranking rangieren Dänemark auf dem letzten, Norwegen auf dem vorletzten Platz, die Schweiz auf Rang 63 und Holland auf Rang 60. Leute aus der Schweiz also, so mutmasst die Studie, könnten sich deshalb scheuen, neue Kontakte einzugehen, weil sie damit eine Verpflichtung verbinden – und diese auch sehr ernst nehmen.

Das sagt Studienautor Jakub Samochowiec:

«Die Verpflichtungskultur in der Schweiz scheint stärker zu wiegen. Das wiederum hat Einfluss auf die Statik der Freundeskreise.»

Warum sollten wir uns neben Partnerschaften und Familien auch um Freundschaften kümmern?

Freundschaften können unser Wohlergehen auf unterschiedliche Arten beeinflussen. In Freundschaften können wir uns Bestätigung und Anerkennung holen, Lob und Wertschätzung können unser Selbstwertgefühl steigern. Mit ihrem emotionalen Support können Freundschaften eine Basis bilden, auf die man sich verlassen kann, wenn eine der anderen Säulen unseres Sozialgefüges wackelt: Die Familie oder die Partnerschaft.

Tatsächlich haben Freundschaften auch einen Einfluss darauf, wie wir über gewisse Dinge denken – und letzten Endes auch, was wir mit unserer Zeit anfangen. So wurden die Teilnehmenden der GDI-Studie über Tätigkeiten befragt, die sie zuletzt ausgeübt hatten, und von wem sie dazu animiert worden waren.

Rund die Hälfte der Befragten gab an, dass sie ein soziales, politisches oder nachbarschaftliches Engagement zumindest teilweise wegen Leuten aus ihrem Freundeskreis übernommen hätten. Ähnlich verhielt es sich bei der Organisation von gemeinschaftlichen Veranstaltungen. Freundschaft also bestimmt das gesellschaftliche Gefüge auch auf einer höheren Ebene. Weil sie Menschen für soziales Engagement animiert, hat sie auch diesbezüglich Relevanz.

Sozialen Strukturen kommt auch eine politische Bedeutung zu. Aus früheren Studien weiss man, dass Menschen, die Ablehnung und Ausgrenzung erfahren haben, eine höhere Bereitschaft haben, sich radikalen Gruppierungen anzuschliessen. Die Umfrage in der GDI-Studie hat ergeben, dass Menschen, die mit Qualität und Quantität ihrer Freundschaften weniger zufrieden sind, auch eher Gewalt rechtfertigen – noch deutlicher ist dieser Zusammenhang mit Einsamkeit und der Legitimation von Gewalt.

Das sagt der Experte:

«Für das individuelle Wohl ist die Qualität von Freundschaften wichtiger, ganz klar. Für den gesellschaftlichen Einfluss aber sind grössere, homogenere Freundeskreise entscheidend: Sind in meinem Umfeld alle im Verein, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass ich auch beitrete.»

Wie pflegen wir Freundschaften und worüber reden wir darin?

Die meisten Leute in der Schweiz verbinden die Pflege ihrer Freundschaften mit ziemlich Alltäglichem wie Essen und Trinken.

Essen, Trinken, Ausgehen: Fast 90 Prozent der für die Studie Befragten verbinden die Pflege ihrer Freundschaften mit ziemlich alltäglichen Annehmlichkeiten. Dabei sprechen Frauen eher über Gefühle, Ängste, Probleme in der Partnerschaft, während sich Männer häufiger über Politik austauschen und sich mit ihren Freunden öfter für konkrete Tätigkeiten wie etwa Sport treffen. Sie geben ihrer Freundschaft also eine zielorientierte Komponente, während sie bei Frauen tendenziell personenorientierter ist.

Ob man in einer immer polarisierteren Gesellschaft in einer Freundschaft noch über Politik reden soll? Die Studie liefert insofern eine Antwort, als sie eruiert, wie viele Leute in letzter Zeit ihre Meinung zu einem wichtigen Thema geändert haben. Das war bei 20 Prozent der Befragten der Fall – zwei Drittel davon gaben an, es sei aufgrund ihrer Freunde passiert.

Das sagt der Experte:

«Der Einfluss des Freundeskreises auf die politische Meinungsbildung ist vorhanden. Offenbar zählt für viele die Vertrautheit einer Quelle mehr als die Vertrauenswürdigkeit, das Wort eines Freundes mehr als das eines Experten.»

Wo lernen wir unsere Freunde kennen?

Jüngere Menschen sind institutionell besser an Orten eingebunden, an denen Freundschaften entstehen, ältere müssen sich darum kümmern: Szene aus einem Pfadilager.

Fast die Hälfte aller Teilnehmenden der GDI-Umfrage hat ihre besten Freundinnen und Freunde an den wichtigsten Sozialisierungsinstanzen kennen gelernt: An der Schule, bei der Arbeit, in einer Ausbildung. Das ist kein Zufall: Solche Gruppen bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft, Erlebtes wird zwangsläufig geteilt, Freundschaften können sich ergeben, sie «passieren», man braucht keine Initiative zu ergreifen.

Ähnliches gilt für Sport oder Hobbys: Die vordergründige Präsenz bei solchen Aktivitäten hat ein anderes Ziel, also fühlt man sich weniger entblösst – was so ähnlich auch für die Partnersuche gilt. Jüngere Leute sind institutionell besser eingebunden an solche Veranstaltungen und Orte, ältere Menschen hingegen müssen sie aus eigener Initiative wieder aufsuchen, was mit ein Grund für das grössere Einsamkeitsgefühl bei älteren Schweizerinnen und Schweizern ist.

Das sagt der Experte:

«Eine eher kontraintuitive Erkenntnis aus der Studie: Unter jüngeren Menschen hat man noch weniger Geheimnisse voreinander in einer Freundschaft. Der Anteil der Menschen, die mit ihren Freunden über Probleme reden, nimmt im Alter ab.»

Und wer hat mehr Freunde – Romands oder Deutschschweizer?

Nicht nur die zugezogenen, sondern offenbar auch die in der Schweiz sozialisierten Menschen sind sich in diesem Land einig: Für Freundschaften ist hier eine besonders aktive emotionale Vorarbeit erforderlich, insbesondere das Durchdringen in die engeren Bekanntenkreise empfinden Zugezogene als sehr schwierig.

Geschlossene Freundeskreise scheinen in der Deutschschweiz am stärksten ausgeprägt, also Cliquen und Gruppen, die sich schon länger und untereinander alle gut kennen. Sie sind gemäss der GDI-Studie signifikant homogener, als es bei zugezogenen, französisch- und italienischsprachigen Schweizerinnen und Schweizern der Fall ist.

Röstigraben? Deutschschweizer und Romands spielen nicht nur mit verschiedenen Jasskarten, sondern haben auch unterschiedlich viele enge Freunde.

Romands unterhalten offenbar die meisten engen Freundschaften: 4,3 sind es im Schnitt unter den französischsprachigen Teilnehmenden der Umfrage, 3,3 unter jenen der italienischsprachigen Schweiz, in der Deutschschweiz 3,9. Dafür haben Menschen in der italienischen Schweiz mit 50 Bekannten einen grösseren Bekanntenkreis (Romandie 41, Deutschschweiz 30). 44 Prozent der Befragten aus dem Tessin sehen ihre engeren Freunde wöchentlich, unter den Teilnehmenden aus der Romandie und der Deutschschweiz waren es jeweils 30 Prozent.

Die Deutschschweizer Bevölkerung also scheint eng zusammengeschweisst mit ihren Freunden, jene aus dem Tessin pflegt die meisten Bekanntschaften und die Leute aus der Romandie unterhalten die meisten engen Freundschaften. 

Das sagt der Experte:

«Manchmal muss man gar keine neuen engen Freunde finden, sondern einfach Kontakt mit solchen aufnehmen, die es einst waren. Probanden in unseren Fokusgruppen betrauten wir mit genau dieser Aufgabe: Sie sollten eine Person kontaktieren, mit der sie mindestens drei Jahre lang nicht gesprochen hatten, nicht im Streit auseinandergegangen waren und keine amouröse oder sexuelle Verbindung hatten. Das Ergebnis war sehr positiv: Von den Leuten, die mitmachten und eine Antwort erhielten, beschrieben 90 Prozent den erfahrenen Austausch als sehr positiv, 80 Prozent haben sich für ein weiteres Treffen verabredet.»