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Ostermythos und Wirklichkeit
«Es hiess, Jesus sei ein Trinker»

Julian Lux spielt Jesus bei der Karfreitagsprozession in Bensheim, umgeben von römischen Soldaten, als Teil der jährlichen Gedenkveranstaltung.
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Frau Merz, wieso ist die Frage, ob Jesus wirklich gelebt hat, für viele Menschen so wichtig?

Für die einen ist die Frage eher von akademischem Interesse, für die anderen aber geradezu von existenzieller Bedeutung. Ich bin davon überzeugt, dass es einen fundamentalen Unterschied macht, ob sich ein Glaube auf eine historische Person stützt – oder auf eine Fantasiegestalt.

Wieso das?

Jesus ist mehr als, sagen wir, eine Figur wie Harry Potter. Er war ein Mensch, der für seine Überzeugung sein Leben riskierte. Der für seinen Glauben am Kreuz gelitten hat – der dafür gestorben ist. Alle Quellen, die von Jesus sprechen, gehen einhellig von seiner historischen Existenz aus. Würde man dies infrage stellen, würde das die Glaubwürdigkeit der gesamten Überlieferung untergraben.

Frau lächelnd mit braunem Haar und roter Kleidung, hält ein Buch in einer Bibliothek.

Sie beschäftigen sich schon Ihr ganzes Leben als Wissenschaftlerin mit dem historischen Jesus. Was gibt es Neues zu berichten?

Was neu und spannend ist: Die Jesusforschung bewegt sich weg von einer männlich dominierten europäischen Sichtweise hin zu einer globalen Perspektive, die Ansätze und Fragen aus Afrika, Asien und anderen Regionen berücksichtigt.

Was heisst das konkret?

Die Forschung untersucht intensiv, wie Jesus zu den Schwächsten in der Gesellschaft stand. Dabei geht es seit längerem schon um die Frauen. In jüngerer Zeit aber rückt die Frage nach den versklavten Menschen in den Fokus. Dabei gibt es radikale Thesen, zum Beispiel von der südafrikanischen Neutestamentlerin Winsome Munro. Sie behauptet, Jesus selbst sei ein Sklave gewesen, weil seine Mutter sich im Lukas-Evangelium «Sklavin des Herrn» nennt.

Jesus, ein Sklave?

Ja, diese These wird in der afroamerikanischen Befreiungstheologie, also unter den Nachfahren der im transatlantischen Sklavenhandel aus Afrika Verschleppten, diskutiert. Ich halte sie nicht für plausibel.

Sie selbst forschen zum Thema der Sklaven…

Ja, es handelt sich dabei um einen wichtigen Aspekt, der zu lange vernachlässigt wurde. Auch wenn Jesus selbst nicht versklavt war, müssen wir uns fragen, wie er und seine Bewegung mit der Realität der Sklaverei umgegangen sind. Die Versklavung von Menschen war in der Antike weitverbreitet.

Wie muss man sich das konkret vorstellen: zu Jesus und der Frage der Sklaverei zu forschen? Gibt es neue archäologische Funde?

Nein. Archäologische Zeugnisse wie Inschriften finden wir fast ausschliesslich von Personen der Oberschicht – Herrscher, hohe Beamte, reiche Grundbesitzer. Diese Leute liessen Paläste bauen oder Inschriften anbringen. Ein anschauliches Beispiel ist die Inschrift des Pontius Pilatus, die in der antiken Stadt Caesarea Maritima gefunden wurde. Sie bestätigt nicht nur seine Existenz, sondern auch den spezifischen militärischen Rang als Präfekt, den er innehatte. Das sind dann archäologische Highlights, aber sie betreffen eben die Elite. Für Jesus, der aus einfachen Verhältnissen stammte, ist so etwas nicht zu erwarten.

Was ist Grundlage Ihrer Forschung?

In meiner Arbeit geht es hauptsächlich darum, bekannte Quellen – primär die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe – neu zu lesen und genau darauf zu achten, wo Sklaven erwähnt werden oder wo man indirekt auf ihre Existenz schliessen kann. Das kann bedeuten, scheinbar bekannte Texte noch einmal unter einer neuen Fragestellung zu betrachten.

«Über die Auferstehung an sich können wir mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft keine Aussage treffen.»

Wie schliesst man denn «indirekt» auf die Existenz von Sklaven?

Zum Beispiel müssen wir uns fragen: Waren die Fischer am See Genezareth alle freie Männer oder gab es versklavte Arbeiter? Wenn die Evangelien im Griechischen von «Mietlingen» als Bezeichnung für einfache Arbeiter sprechen, könnten damit auch Sklaven gemeint sein. Sprechen die Quellen von Prostituierten, muss man berücksichtigen: Prostituierte waren in der römischen Welt zu einem sehr hohen Prozentsatz Sklavinnen. Die Begriffe «Prostituierte» und «Sklavin» sind in der griechisch-römischen Literatur oft Synonyme.

Wenn man erkennt, dass in den Quellen tatsächlich direkt oder indirekt von Sklavinnen und Sklaven die Rede ist – welches ist die Relevanz dieser Erkenntnis?

Diese Erkenntnis wirft ein neues Licht auf das Bild, das wir uns bisher von der Gesellschaft zur Zeit Jesu und von Jesus selbst gemacht haben. Plötzlich sehen wir, dass die Bibel eben nicht nur von den Mächtigen und Einflussreichen erzählt, sondern dass auch von dieser riesigen Gruppe von Menschen berichtet wird, die versklavt waren. Es ist auch eine Art Weckruf, kritisch zu hinterfragen, warum die Evangelien so wenig über Sklaverei berichten, obwohl sie doch ein allgegenwärtiges Phänomen war.

Zur Abschaffung der Sklaverei hat Jesus nicht aufgerufen. Darin war er offenbar ein Kind seiner Zeit…

Ja. Wenn wir Jesus historisch untersuchen, müssen wir anerkennen, dass auch er ein Mensch seiner Zeit war. Das zeigt sich auch in seinen patriarchalen Haltungen.

Jesus war ein Macho?

So würde ich mich nicht ausdrücken. Aber es ist kein Zufall, dass er zwölf männliche Jünger auswählte, um die zwölf Stämme Israels zu repräsentieren. Obwohl Maria Magdalena offensichtlich eine wichtige Jüngerin war, gehörte sie nicht zu diesem Kreis.

Das Grab von Jesus Christus in der Rotunde der Grabeskirche in Jerusalem, Israel, während der Restaurierung im März 2017.

Sie sagen, Jesus sei als Mensch zu verstehen. Wie kann ein Mensch drei Tage nach seinem Tod auferstehen?

Historisch betrachtet, ist zur Zeit Jesu die Vorstellung einer Auferstehung nicht so aussergewöhnlich, wie es uns heute erscheinen mag. Im Judentum war damals die Erwartung einer eschatologischen, also einer endzeitlichen Auferstehung der Toten ein weitverbreiteter Glaube.

Aber aus heutiger Sicht ist eine Auferstehung von den Toten, wie sie im Ostern-Narrativ berichtet wird, ungewöhnlich, gelinde gesagt.

Über das Ereignis der Auferstehung an sich können wir mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft tatsächlich keine Aussage treffen. Das ist ähnlich schwierig, wie wissenschaftlich fundiert etwas über Nahtoderlebnisse oder sogenannte «Out-of-Body-Experiences», ausserkörperliche Erfahrungen, zu sagen.

Sie wollen sagen, Jesus war drei Tage lang scheintot?

Nein. Ich behaupte nicht, dass Jesus nur scheintot war. Das ist eine alte Theorie, die aber wenig plausibel ist. Und ich traue den römischen Soldaten zu, dass sie wussten, wie man eine Kreuzigung zum Tode führt.

Was denn meinen Sie?

Was ich sagen will, ist, dass es Phänomene im Bereich des menschlichen Bewusstseins gibt – wie die von mir erwähnten Nahtoderlebnisse –, die wir weder naturwissenschaftlich noch historisch mit gängigen Methoden abschliessend erklären können. Die historische Untersuchung stösst bei der Erklärung der Auferstehung Jesu an eine Grenze.

Wenn die Historie beim Ereignis selbst an ihre Grenzen stösst, worauf richtet sich dann Ihr Blick als Forscherin?

Was wir genau erklären können, ist die enorme Wirkung dieses Auferstehungsglaubens. Dieser Glaube war für die Jüngerinnen und Jünger keine blosse literarische Erfindung, sondern eine tiefgreifende, existenzielle Erfahrung, die sie subjektiv als absolut real empfanden. Diese Überzeugung gab ihnen die Kraft und den Mut, die Botschaft von Jesus weiterzutragen, auch unter Gefahr. Und genau an diesem Punkt beginnt eigentlich die Geschichte des Christentums als eigenständiger Bewegung.

Ein umstrittenes Detail der Ostern-Erzählung betrifft das Grab Jesu. Es gibt Forscher, die sagen, einen Gekreuzigten wie Jesus hätte man damals sicher nicht in einem neuen Einzelgrab bestattet, wie es überliefert ist. Vielmehr wäre er mit anderen Hingerichteten in einer Grube verscharrt worden. Wie sehen Sie das?

Diese Frage ist berechtigt. Lange dachte man, eine ehrenvolle Bestattung sei für Gekreuzigte ausgeschlossen. Aber wir haben einen wichtigen archäologischen Fund gemacht, den eines Gekreuzigten von Giv’at ha-Mivtar aus dem 1. Jahrhundert. Dieser Mann wurde – mit einem Nagel noch im Fersenknochen – in einem Ossuar, also einem Knochenkasten, in einem Familiengrab bestattet. Dieser Fund belegt, dass es vorkommen konnte, dass ein Gekreuzigter eine solche Bestattung erhielt. Wenn die Familie oder ein Fürsprecher des Gekreuzigten einflussreich genug war, oder vielleicht auch durch Bestechung, konnte eine Bestattung in einem Felsengrab stattfinden.

Antike Inschrift auf einem Steinblock, umgeben von römischen Säulen und Schautafeln im Freilichtmuseum.

Es gibt noch einige andere Dinge, die aus heutiger Sicht ungewöhnlich erscheinen. Was sagen Sie zu den Wundern, die er vollbracht haben soll?

Ich bin überzeugt, dass der historische Jesus als charismatischer Wundertäter auftrat – und selbst überzeugt war, dass seine Taten mehr sind als blosses Spektakel. Besonders Heilungen und Dämonenaustreibungen erscheinen plausibel – sie passen zu den damaligen Vorstellungen von Krankheit und Besessenheit und lassen sich auch aus heutiger Sicht erklären: durch psychosomatische Effekte, durch die Kraft des Glaubens und der Erwartung. Wer fest daran glaubte, dass Jesus helfen konnte, erlebte mitunter tatsächlich eine Besserung – bei Fieber, Lähmungen oder jenen seelischen Zuständen, die man damals als Besessenheit deutete.

Und übers Wasser wandeln konnte Jesus auch?

Nein, das Gehen über das Wasser ist definitiv etwas anderes. Das fällt klar in die Kategorie der Naturwunder, die wir von den Heilungen und Exorzismen gut unterscheiden können. Das sind Erzählungen, die sehr wahrscheinlich später in die Überlieferung gekommen sind. Über das Wasser zu gehen, das ist im damaligen Denken typischerweise etwas, was Gott kann. Solche Motive der Macht über die Elemente finden wir auch in Erzählungen über Götter im griechisch-römischen Kontext.

Jesus hatte bei einigen Leuten einen ziemlich schlechten Ruf…

Genau. Jesus war ein Trinker und Fresser, hiess es unter anderem.

War er das?

Die Stelle, die Sie ansprechen, findet sich in Lukas 7,33-34. Es ist wichtig, diesen Vorwurf im Kontext zu betrachten. Einerseits spiegelt er sicherlich die Perspektive seiner Gegner wider, die ihn im Vergleich zu Johannes, dem Täufer, der asketisch lebte, herabsetzen wollten. Andererseits scheint Jesus diese Beleidigung in gewisser Weise angenommen zu haben, um damit auszudrücken, dass er eben nicht asketisch war wie Johannes. Jesus suchte die Nähe zu den Menschen in den Dörfern und Städten und versuchte, sie zusammenzubringen. Dieses Verhalten steht im Kontrast zu Johannes, der sich in die Wüste zurückzog.

«Solange man kritische Quellenforschung betreibt, ist es nicht entscheidend, ob man Christin ist oder Jüdin oder Agnostikerin.»

Sind Sie eine gläubige Christin?

Ja, ich bin Protestantin.

Wie können Sie vor dem Hintergrund Ihres Glaubens objektiv forschen?

Menschen können verschiedene Identitäten haben. Eine seriöse Historikerin zu sein, ist für mich eine essenzielle Identität. Solange man kritische Quellenforschung betreibt und methodisch sauber arbeitet, ist es nicht entscheidend, ob man Christin ist, Jüdin oder Agnostikerin. Denn alle diese Haltungen sind letztlich eine Art Glaubenshaltung, sind mit Voreinstellungen verbunden und werden immer mitspielen.

Sie gehen als Wissenschaftlerin fest davon aus, dass es einen historischen Jesus gegeben hat. Stellen Sie sich vor, Sie könnten ihn treffen, nur für fünf Minuten. Was würden Sie ihn fragen?

Wenn ich diese Chance hätte… Ich würde ihn nach seinen prägenden Einflüssen in den frühen Jahren fragen wollen. Wer waren die wichtigsten Personen, die ihn beeinflusst haben, bevor er auf Johannes den Täufer traf? Was hat ihn in Galiläa geformt? Über diese Zeit wissen wir so wenig. Das wäre meine erste Frage. Ich würde ihn auch direkt nach seiner Haltung zu Sklaven und Sklaverei im jüdischen Kontext fragen wollen, da die Quellen hier nicht immer eindeutig sind.

Wir sagten, fünf Minuten…

Fünf Minuten? Das wäre viel zu kurz. Sie müssten mich wohl schon wegtragen!