Fed fällt heute ZinsentscheidDie Wirtschaft boomt, die Menschen sind unzufrieden – Amerikas grosses Rätsel
Die USA erleben eine märchenhafte Desinflation und ein Jobwunder wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch die Leute auf der Strasse klagen. Ökonomen fragen sich: Wie kann das sein?
Der Ökonom Alan Blinder hat schon einiges erlebt. Einst unterbrach der Professor seine Karriere an der Princeton-Universität, um den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton in Wirtschaftsfragen zu beraten. Danach bestimmte er als Vizechef der Notenbank die Geldpolitik des Landes mit. Doch in diesen Tagen erlebt man einen ratlosen Mann.
«Eigentlich läuft die amerikanische Wirtschaft gerade erstaunlich gut», sagt Blinder und zählt auf: Das Wachstum im dritten Quartal betrug über 5 Prozent, mehr als in den meisten anderen Industrieländern. Die Inflation hat sich seit ihrem Hoch im Sommer 2022 halbiert, während die Löhne beharrlich stiegen. Die Arbeitslosigkeit sank im November nochmals auf nun 3,7 Prozent, eine Fortschreibung des Jobwunders, das die Vereinigten Staaten seit Ende der Pandemie erleben.
Drei Viertel der Amerikaner unzufrieden
Der Federal Reserve, die am heutigen Mittwoch ihre letzte Zinsentscheidung in diesem Jahr bekannt gibt, sei ein Kunststück gelungen, glaubt Blinder. Mit ihren Zinserhöhungen habe sie die Inflation erfolgreich bekämpft, ohne das Land in eine Rezession zu stürzen. Eine «immaculate disinflation» nennt Blinder das, eine unbefleckte Desinflation. Fast so wundersam wie in der Bibel.
Blinder kennt aber natürlich auch diese Zahlen: Drei Viertel der Amerikaner beurteilen die Wirtschaftslage einer Umfrage des Pew Research Center zufolge als «schlecht». Selbst Wähler der Demokraten sind mehrheitlich unzufrieden, fand eine Erhebung der «New York Times» heraus. Demnach trauen fast 60 Prozent der Befragten dem Ex-Präsidenten Donald Trump mehr Wirtschaftskompetenz zu als dessen Nachfolger Joe Biden – und das, obwohl sie während Trumps Amtszeit eine der schwersten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der USA durchgemacht hatten.
Wie Alan Blinder stehen viele amerikanische Ökonomen vor einem Rätsel: Warum blicken ihre Landsleute so pessimistisch auf die eigene Wirtschaft, wenn doch alle Statistiken positiv sind? Wenn der Strom in den USA weniger als die Hälfte kostet im Vergleich zu Deutschland und Joe Biden mit seinem Inflation Reduction Act und anderen Programmen der Konjunktur einen Schub gegeben hat? Haben die Ökonomen etwas verpasst – oder wollen die Menschen in ihrem Land einfach nicht sehen, wie gut es ihnen gerade geht?
«Ich vertraue den Politikern nicht mehr»
Ein Dienstagvormittag in der Bronx. Ganz im Norden des nördlichsten New Yorker Stadtteils liegt die italienische Enklave Arthur Avenue. Feinkostläden reihen sich an Pizzerien, Familien führen ihre Kopftuch tragenden Nonnas über das Trottoir. Seit 1915 betreibt die jüdische Familie Teitel hier ein auf italienische Importprodukte spezialisiertes Geschäft. Von der Decke hängen Salamiwürste und Schinken, es riecht wie Ferien in Italien.
Gil Teitel, der Chef, steht hinter der Theke und schneidet Mortadella in dünne Scheiben, aber es dauert nicht lange, bis er zu schimpfen anfängt: «Die Preise sind verrückt. Ich weiss nicht, wo das noch enden soll.» Alles sei teurer geworden: Olivenöl, Panettone-Kuchen, sogar die Tomaten, die der Familienbetrieb in Italien in Dosen abfüllen und nach Amerika verschiffen lässt.
Spüre er die nachlassende Inflation denn gar nicht? Diese liegt derzeit nur noch bei 3,2 Prozent. Doch, sagt Teitel. «Aber das reicht nicht. Man sieht, dass die Bidenomics nicht funktionieren.» So heisst die Wirtschaftspolitik des US-Präsidenten, die das Ziel hat, die Vereinigten Staaten aus der Pandemie zu führen.
Fachleute sehen verzerrte Wahrnehmung
David Wessel von der liberalen Denkfabrik Brookings Institution nennt das, was Gil Teitel beschreibt, ein «Wahrnehmungsproblem». Ökonomen seien zufrieden, wenn die Inflation sinke. Konsumenten und Kleinunternehmern hingegen reiche das nicht. Sie erwarteten fallende Preise – was aus Sicht von Ökonomen jedoch keinesfalls wünschenswert sei. Tatsächlich haben sich Notenbanken wie die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank sogar zum Ziel gesetzt, die Inflation bei 2 Prozent zu halten. Liegt sie darunter, so die Befürchtung, drohen Waren und Dienstleistungen an Wert zu verlieren. Unternehmen entlassen dann womöglich Mitarbeiter.
Wessel glaubt deshalb, dass es noch andere Gründe für die Unzufriedenheit der Amerikaner gibt, die nur am Rande etwas mit der Wirtschaftslage zu tun haben. «Es herrscht bei den Leuten grosse Verunsicherung», sagt er. «Die Menschen fürchten zum Beispiel, dass ihre Kinder bei der nächsten Massenschiesserei zu den Opfern gehören.» Diese Angst würden viele auf die Wirtschaft projizieren.
Der Princeton-Ökonom und ehemalige Clinton-Berater Alan Blinder sieht es ähnlich. In seiner Kolumne für das «Wall Street Journal» diagnostizierte er kürzlich eine generelle «grumpiness» seiner Mitbürger. Frei übersetzt: Die Amerikaner seien allgemein missgelaunt. «Sie mögen weder Biden noch Trump, und auch die Wirtschaft gefällt ihnen nicht», sagt Blinder. «Das ist ein Problem, das wir Ökonomen nicht lösen können.»
Bei Gil Teitel, dem Feinkosthändler aus der Bronx, hat sich jedenfalls einiges an Frust angestaut. Er klagt über die hohe Kriminalität und die Hilflosigkeit der Polizei, die Verdächtige schon nach wenigen Stunden wieder freilasse. Und dann sei da noch diese verrückte Steuer, die New York bald von Lastwagen verlange, die das südliche Manhattan durchqueren. Die ruiniere seinem Lieferbetrieb das Geschäft. «Ich vertraue den Politikern nicht mehr», sagt Teitel.
Klagen über gierige Konzerne
Betritt man auf der Arthur Avenue nur ein paar Schritte weiter die Madonia Bakery, spürt man ein ähnliches Unbehagen. Daniel Calano-Moore (30) führt den Familienbetrieb in vierter Generation. Vor anderthalb Jahren, inmitten der Pandemie, kündigte er seinen Job in der Immobilienbranche und übernahm die Bäckerei. Seitdem steht er fast jeden Tag im Laden oder in der Backstube.
Auch für ihn sei das vergangene Jahr wegen der extremen Preissteigerungen bei Mehl, Eiern und Butter sehr hart gewesen, erzählt er. «Wir befinden uns am untersten Ende der Nahrungskette.» Doch Calano-Moore macht dafür nicht Joe Biden verantwortlich, sondern die Gier von Konzernen, die sich an Kleinunternehmern wie ihm bereicherten.
Calano-Moore und den 85-jährigen Gil Teitel aus der Nachbarschaft trennen fünfeinhalb Jahrzehnte und, wenn man ihnen zuhört, auch politisch Welten. Und doch empfinden sie eine ähnliche Ohnmacht, eine ähnliche Resignation, die sich in kaum einer wirtschaftlichen Statistik erfassen lässt.
Zinsen sollen sinken, sagen die Menschen
Dennoch beruht die Unzufriedenheit der beiden nicht bloss auf einem diffusen Gefühl. In den vergangenen Wochen mehrten sich auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt die Anzeichen für eine Abkühlung. Die Zahl der offenen Stellen etwa sank im November leicht. Für das kommende Jahr sagen Ökonomen ein deutlich niedrigeres Wachstum als 2023 voraus. Ein Grund: Die Wirtschaftspolitik von Präsident Biden erreicht nicht alle Amerikaner. Vom Inflation Reduction Act profitieren vor allem Unternehmen, die im Land Chip- oder Batteriefabriken bauen. Sie erhalten in diesem Fall Steuererleichterungen. Aber was nützt eine neue Fertigungsstätte in Ohio einem Arbeiter aus West Virginia?
Auch die Zinspolitik der Federal Reserve ist für die Amerikanerinnen und Amerikaner nicht ohne Folgen geblieben. Seit dem Frühjahr 2022 hat die Notenbank den Leitzins Schritt für Schritt erhöht. Das macht sich etwa auf dem Immobilienmarkt bemerkbar. Einer Auswertung des Portals Bankrate zufolge müssen Amerikaner für einen 30-jährigen Immobilienkredit gerade mehr als 7 Prozent Zinsen zahlen – so viel wie seit 23 Jahren nicht.
Kein Wunder also, dass Forderungen nach einem Ende der Politik der hohen Zinsen immer lauter werden. Doch die Notenbankerinnen und Notenbanker um Fed-Chef Jerome Powell haben angedeutet, darüber erst im kommenden Frühjahr nachzudenken. Bei ihrer am Mittwoch anstehenden Entscheidung dürften sie den Leitzins nach allgemeiner Erwartung bei seiner derzeitigen Spanne von 5,25 bis 5,50 Prozent belassen.
Der Hausbesitzer ist gut gelaunt
Eine letzte Begegnung auf der Arthur Avenue. Auf dem Trottoir vor dem Laden von Gil Teitel wartet Agim Dedushi. Er wohnt in der Nähe und hat auch eine Meinung zur wirtschaftlichen Lage, die er auf Nachfrage gerne teilt. Er lese viel Zeitung und wisse daher, dass die USA nur mit viel Glück an einer Rezession vorbeigeschrammt seien.
Vielleicht wirkt Dedushi aber auch deshalb so gut gelaunt, weil er zu den Glücklichen gehört. Vor einigen Jahren habe er in der Bronx für 380’000 Dollar ein Wohnhaus gekauft, erzählt er. Heute könnte er sich das wegen der hohen Zinsen vermutlich nicht mehr leisten. Dafür sei die Immobilie nun knapp 1,3 Millionen Dollar wert. Und man merkt: Der Blick auf die Wirtschaft ist wie fast alles im Leben eine Frage der Perspektive.
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