Leitartikel zum US-WahlkampfEs ist ein Fehler, Trump zu unterschätzen
Die USA stehen vor einer Weichenstellung. Kamala Harris steht für den Glauben an den amerikanischen Traum, Donald Trump für einen Umbruch mit potenziell katastrophalen Folgen.

Kamala Harris oder Donald Trump? Was diese Auswahl bedeutet, haben die letzten Tage des Kampfs um das Weisse Haus nochmals deutlich gemacht. Sie versprach, eine Präsidentin für alle Amerikanerinnen und Amerikaner zu sein. Er fantasierte darüber, seine Kritikerin Liz Cheney vor neun Gewehrläufe zu stellen.
Das Finale ist so verrückt, wie es der ganze historische Wahlkampf war, der als Neuauflage des Duells von Joe Biden und Donald Trump begonnen hatte. Jetzt, nach mehreren dramatischen Wendungen, steht er vor einer knappen Entscheidung. Man muss weder Schwarzmaler noch Parteigänger der Demokraten sein, um zum Schluss zu gelangen, dass viel auf dem Spiel steht. Mehr jedenfalls als eine simple Abwägung zwischen tieferen Steuern und einem grosszügigeren Sozialstaat, lange die Trennlinie zwischen Republikanern und Demokraten.
Eine historische Kandidatin – und eine ganz normale Politikerin
Die Amerikanerinnen und Amerikaner müssen vielmehr entscheiden, ob sie ihr Land einer klassischen Politikerin anvertrauen wollen. Kamala Harris hat einen multikulturellen Hintergrund und verkörpert damit die modernen Vereinigten Staaten, sie wäre auch die erste Frau im Amt, eine historische Premiere. Aber sie ist auch eine ganz normale Politikerin mit Stärken und Schwächen, machtbewusst, pragmatisch, ideologisch geschmeidig. Nicht Joe Biden, aber auch nicht allzu weit davon entfernt.
Donald Trump hingegen ist ein Regelbrecher, ein Disruptor, wie es im neuenglischen Businessjargon heisst. Dieser Ruf fasziniert viele Amerikaner, weil sie dem Staat grundsätzlich misstrauen. Und weil die Politik für viele Menschen seit Jahrzehnten ungenügende Resultate liefert. In einem der wohlhabendsten Länder der Welt wächst die Ungleichheit zwischen den Reichsten und allen anderen. Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaft rasant, durch Einwanderung, Gleichberechtigung, geopolitische Umwälzungen.
Trump 2.0 ist nicht mehr der Trump von 2016
Viele Amerikaner zweifeln am amerikanischen Traum. Donald Trump verspricht dafür einfache Lösungen. Wie gering der Mann die demokratischen Institutionen schätzt, die Regeln, die das Zusammenleben in diesem vielfältigen und komplexen Land ermöglichen, schieben seine Wähler beiseite. Sie, die Hälfte der Bevölkerung, sind nicht alle dem Rassismus und den faschistoiden Ideen verfallen, die feste Teile von Trumps politischer Rhetorik sind.
Viel zu viele Amerikaner spielen die Gefahr herunter, die von dem Mann ausgeht. Sie verharmlosen seine Auslassungen als politisches Theater, als Mittel zur Mobilisierung. Sie wenden ein, in der ersten Amtszeit habe er ganz gut regiert, die Demokraten hätten schon Ronald Reagan und George W. Bush als Faschisten beschimpft.
Doch Trump 2.0 unterscheidet sich grundlegend von Trump 2016. Damals war er ein Politikneuling. Vier Jahre später versuchte Trump amateurhaft, mit Gewalt an der Macht zu bleiben. Das Resultat der Wahl hat er nie anerkannt. Es wäre ein Fehler, zu glauben, er würde die politische Mechanik noch immer nicht beherrschen. Diesmal ist er besser vorbereitet, wichtige Leitplanken sind abgebaut.
Als Racheengel begann Trump den Wahlkampf 2024, um ständig düsterer zu werden. Er redete davon, die Verfassung ausser Kraft zu setzen. Er beschrieb politische Gegner als Verräter, drohte ihnen mit der Armee und Gefängnis. Zuletzt stellte er seine Widersacherin Liz Cheney in einer Schilderung vor neun Gewehrläufe, er, der selbst nur knapp einem Attentat entgangen ist. Trump weiss genau, wie seine extremen Anhänger darauf reagieren.
Trump hat alle vorgewarnt
Kein Amerikaner, keine Amerikanerin kann behaupten, nicht gewusst zu haben, wofür sie stimmen, falls Trump noch einmal an die Macht gelangt. Falls er das Resultat als Freipass interpretiert, sich als Autokrat zu gebärden. Oder falls er das Wahlresultat wieder leugnet und das Land mit Chaos und Gewalt überzieht. Mit Kamala Harris steht eine Alternative zur Wahl, deren politisches Programm keineswegs über alle Zweifel erhaben ist, die sich aber ohne Vorbehalte dem Rechtsstaat und der Demokratie verpflichtet.
Die Amerikanerinnen und Amerikaner entscheiden nun, wie sie in die Zukunft gehen wollen. Glauben sie noch an den amerikanischen Traum? An den Motor, der grosse Teile der Welt antreibt, den Magneten für die umtriebigsten Köpfe? An die Kraft ihrer freien Gesellschaft, schrittweise ihre Widersprüche zu überwinden?
Oder entscheiden sie sich für einen Umbruch im Wissen um das Potenzial katastrophaler Folgen, indem sie einen Geist noch einmal aus der Flasche lassen, der sich vielleicht nicht wieder einfangen lässt? Sollte Trump als Sieger aus dieser Wahl hervorgehen, wäre das ein Schlag für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, für den Glauben an den Fortschritt, der die westliche Welt seit dem Zweiten Weltkrieg angetrieben hat. Ein besonderer Schlag für Europa, das sich auf seinen wichtigsten wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Partner nicht mehr verlassen könnte.
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