Neuer Streit mit Schweden Und schon droht Erdogan wieder mit Nato-Blockade
Kaum hat man sich mit der Türkei geeinigt, gibt es neuen Zwist: Präsident Erdogan verlangt von Schweden die sofortige Auslieferung von 73 «Terrorverdächtigen».
Am Dienstag noch war die Erleichterung bei vielen Schweden und Finnen so gross wie die Überraschung: Die Türkei hatte ihren Widerstand gegen eine Nato-Mitgliedschaft der beiden Länder aufgegeben, die drei Staaten unterzeichneten beim Nato-Gipfel in Madrid ein gemeinsames Memorandum. Zwei Tage später erfolgte nun eine für die Schweden «wirklich unangenehme Überraschung», wie es der schwedische Sender SVT nannte.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nämlich forderte die umgehende Auslieferung von 73 «Terroristen» von Schweden. Mehr noch: Er behauptete, Stockholm habe sich in den Gesprächen zur Auslieferung der 73 verpflichtet. Bei den 73 handelt es sich offenbar um in Schweden und Finnland lebende Kurden ebenso wie um Anhänger der religiösen Fetullah-Gülen-Bewegung.
Das Erstaunen unter den schwedischen Journalisten war so gross, dass sie nachfragten und Erdogan mehrfach wiederholte: «73, 73.» Gemäss der regierungsnahen türkischen Zeitung «Sabah» sagte Erdogan hernach zudem, wenn Schweden seinen «Beitrag» leiste, dann werde man dem Parlament empfehlen, den Nato-Beitritt des Landes zu ratifizieren. Wenn aber nicht, dann sehe er dazu «keine Notwendigkeit». «Erdogan zeigt, dass er noch immer den Schlüssel in der Hand hält», hiess es in einem Kommentar des öffentlich-rechtlichen Senders SVT in Stockholm.
Schwedische Staatsbürger werden nicht ausgeliefert
In Schweden selbst hatte unter anderem der Absatz in dem Memorandum über eine «Sicherheitskooperation» mit der Türkei schon unmittelbar nach Veröffentlichung Kritik ausgelöst. Darin heisst es, Finnland und Schweden würden bei Ersuchen um eine Auslieferung von Terrorverdächtigen «die von der Türkei bereitgestellten Informationen, Beweise und Erkenntnisse berücksichtigen». Gleichzeitig heisst es aber auch, die Länder würden sich an das Europäische Auslieferungsabkommen halten.
Auf letzteren Punkt verweist die schwedische Regierung, um jene zu beruhigen, die befürchten, Stockholm könne der Türkei zu sehr entgegenkommen in deren Definition eines «Terrorverdächtigen». Nach Erdogans Vorstoss erklärte der schwedische Innen- und Justizminister Morgan Johansson, in Schweden gelte weiterhin «schwedisches Recht, das von unabhängigen Gerichten angewendet wird». Schwedische Staatsbürger würden ohnehin nicht ausgeliefert. Nicht-Schweden könnten generell ausgeliefert werden, «jedoch nur, wenn dies mit schwedischem Recht und der Europäischen Konvention vereinbar ist». Die schwedischen Grünen und die Linkspartei forderten am Freitag eine schnelle Erklärung von Aussenministerin Ann Linde, was denn das Memorandum in der Praxis nun bedeute.
Das Memorandum sei für Erdogan «eine politische Milchkuh»
Zwischen der türkischen Definition eines Terrorverdächtigen und der anderer EU-Länder liegen Welten. Vor allem in Schweden haben viele Kurden Zuflucht gefunden, die in den Augen der schwedischen Behörden lediglich legitim für ihre Rechte eingestanden sind. Die türkische Regierung allerdings bezeichnet viele als Terroristen. Das am Dienstag in Madrid unterzeichnete Memorandum sei ein «diplomatisches Meisterwerk» gewesen, weil es den unterschiedlichen Sichtweisen so viel Raum gegeben habe, dass es zur Unterzeichnung gekommen sei, sagte Paul Levin, der Direktor des Instituts für Türkei-Studien, am Freitag SVT. Gleichzeitig aber sei genau das nun die Krux des Dokuments: Es lade im Nachhinein ein zu «anhaltenden Meinungsverschiedenheiten».
Die Stockholmer Zeitung «Dagens Nyheter» spekulierte in einem Leitartikel am Freitag, ob Erdogans wahres Ziel vielleicht weitere Zugeständnisse der USA seien könnten. An Schwedens Auslieferungspraxis jedenfalls werde sich in der Praxis wohl nichts ändern, glaubt das liberale Blatt: «Wer am Dienstag nicht ausgeliefert werden konnte, der wird auch weiterhin nicht ausgeliefert werden.» Die Zeitung nannte das Memorandum eine «politische Milchkuh» für Erdogan, die dieser in den nächsten Monaten immer weiter melken werde, solange es ihm innenpolitisch nütze.
Aufs Drohen jedenfalls versteht sich der türkische Präsident. Als er seine Forderung nach Auslieferung der 73 vortrug, sagte er wohl vor allem in Richtung Schweden, der Beitrittsprozess Nordmazedoniens habe auch zwanzig Jahre gedauert.
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