Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Putins Zermürbungstaktik
Die Menschen in der Ukraine haben Angst, zu erfrieren

An elderly woman collects wood ahead of the winter in an area that was recently shelled in the village of Yasenove, south of the city of Pokrovsk, Donetsk region, on October 8, 2024, amid the Russian invasion of Ukraine. (Photo by Roman PILIPEY / AFP)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk
In Kürze:
  • Russische Angriffe auf die Energieversorgung erschweren die humanitäre Lage in der Ukraine.
  • Die Vereinten Nationen warnen vor Stromausfällen von bis zu 18 Stunden täglich.
  • Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind psychisch und wirtschaftlich am Limit.
  • Direkte Geldspenden sollten bei der Wintervorbereitung unterstützen, sagt Scott Lea.

Seit Monaten treibt sie ihn um. Die Frage, wie den Menschen in der Ukraine in diesem besonders harten Winter geholfen werden kann. In einem Winter, in dem die humanitäre Not wohl so gross sein wird wie seit Beginn des Krieges vor mehr als zweieinhalb Jahren nicht mehr. «Es ist eine Sache, sich unsicher zu fühlen. Es ist eine andere, zu erfrieren», sagt Scott Lea, Landesdirektor der Nichtregierungsorganisation International Rescue Committee (IRC) in der Ukraine.

Lea kennt die Ukraine, lebt seit fast einem Jahr in Kiew und betreut die landesweiten Projekte der Hilfsorganisation. Er hat auch die russischen Angriffe auf die Energieversorgung erlebt und was es heisst, manchmal stundenlang ohne Strom zu sein. Er habe Glück gehabt, sagt er, der Sommer war warm und die Tage lang, aber «wenn die Situation im Winter so schlimm wird, wie wir annehmen, wird es viel schwieriger sein, den Menschen zu helfen».

Wärmeversorgung in der Ukraine ist gefährdet

Damit die Situation wenigstens ein bisschen besser wird, rief die Internationale Energieagentur (IEA) kürzlich zur Unterstützung der Ukraine auf. Die Stromversorgung von Spitälern, Schulen und anderen wichtigen Einrichtungen könnte im Winter angesichts der russischen Bombardemente auf die Versorgungsanlagen noch stärker beeinträchtigt werden, die Wärmeversorgung der ukrainischen Grossstädte sei gefährdet. Die UNO warnt, dass die Stromausfälle im Winter zwischen 4 und 18 Stunden pro Tag dauern könnten.

Ein längerer Stromausfall hätte wahrscheinlich vielfältige Auswirkungen auf die ukrainische Zivilgesellschaft, von der Unterbrechung der Wasser- und Heizungsversorgung bis hin zu einer weiteren Belastung der ohnehin schwächelnden Wirtschaft. Das grösste Opfer von allen könnte jedoch die angeschlagene Psyche der Ukrainerinnen und Ukrainer sein. Nach mehr als zweieinhalb Jahren Krieg mit einer Reihe von Rückschlägen auf dem Schlachtfeld in den letzten Monaten sind viele Menschen am Ende ihrer Kräfte. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bereits heute rund zehn Millionen Menschen in der Ukraine von psychischen Gesundheitsproblemen bedroht – Tendenz steigend.

Die Psyche der Ukrainer ist angeschlagen

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat Putins Zermürbungstaktik längst durchschaut. Er sagte in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September, Putin versuche, den Willen der Ukrainer zu brechen, indem er die Energieinfrastruktur angreife. So wolle er die Zivilbevölkerung «im Dunkeln und in der Kälte lassen und die Ukraine zum Leiden und zur Kapitulation zwingen».

Das russische Kalkül scheint aufzugehen. Die Psyche der Menschen ist angeschlagen, sie fürchten sich vor dem kalten Winter und der fehlenden Energieversorgung. Das könnte dazu führen, dass die Menschen wieder zu fliehen begännen, sagt der humanitäre Helfer Scott Lea. Und dass sich diesmal auch jene auf die Flucht begeben, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren in der Nähe der Front und im Bombenhagel ausgeharrt haben. «Diese Menschen haben viel durchgemacht, sie haben an ihren Häusern und an ihrem Leben festgehalten», sagt er.

Die Menschen in der Ukraine seien in jeder Hinsicht erschöpft, sagt Scott Lea vom International Rescue Committee.

Scott Lea reist viel durch das Land, besucht die Projekte der Hilfsorganisation, tauscht sich mit Partnern und Ukrainern aus, die zum Beispiel in einer IRC-Unterkunft untergekommen sind oder medizinische sowie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.

Er weiss, was die russische Zermürbungstaktik, was der ständige Beschuss und die Unsicherheit für die Menschen im Land bedeuten. «Ich glaube, dass die Resilienz der Ukrainer, die wir in den letzten zwei Jahren gefeiert haben, langsam aufgebraucht ist. Die Menschen sind nicht nur geistig und körperlich erschöpft, sondern auch wirtschaftlich», sagt er. Um denjenigen zu helfen, die sich kein Heizmaterial mehr leisten können, hilft das IRC etwa mit direkten Geldspenden. Jeder Haushalt erhalte umgerechnet knapp 500 Franken, mit denen er Kraftstoff für den Winter kaufen könne, erklärt Lea.

Die Kälte kommt, der Krieg dauert an. Scott Lea und seine Kollegen vom IRC werden die Menschen vor Ort weiter unterstützen. Seit Februar 2022 hat die Nichtregierungsorganisation etwas mehr als eine Million Menschen erreicht. Im Kalenderjahr 2024 sind es bisher rund 100’000. Wie er alle Menschen in der Ukraine unterstützen kann, weiss Lea noch nicht. Denn gerade beschäftigt ihn die Frage, wie er kranken Menschen helfen kann, ihre Wohnung im 20. Stock warm zu halten, wenn Strom oder Heizung ausfallen. Aber auch hier ist er zuversichtlich, dass eine Lösung gefunden wird. Denn im Moment ist Aufgeben für ihn keine Option – egal, wie dunkel der Winter wird.