Interview mit WirtschaftsprofessorGibt es eine Formel für Frieden? Ja, sagt ein Schweizer Konfliktforscher
Kriege zerstören Menschenleben, Gemeinschaften und Volkswirtschaften. Nun macht Dominic Rohner einen kühnen Vorschlag, wie sich Frieden stiften lässt.

- Wirtschaftliche Faktoren sind entscheidend für Frieden und Stabilität, sagt Ökonom und Friedensforscher Dominic Rohner im exklusiven Interview.
- Rohner betrachtet Demokratie, Wohlstand und Sicherheit als Schlüssel zur Konfliktvermeidung.
- Die Schweiz dient als positives Beispiel dank Machtteilung nach dem Sonderbundskrieg.
- Langfristige Friedensstrategien sind laut Rohner besser als kurzfristige politische Lösungen.
Eine Formel für den Frieden: Nichts Geringeres stellt Wirtschaftsprofessor und Konfliktforscher Dominic Rohner in seinem neuen Buch* vor.
Sein Gebot stützt der Wissenschaftler von der Universität Lausanne auf Analysen von bewaffneten Konflikten. Dabei kommt Rohner zum Schluss: Genauso wie wirtschaftliche Faktoren Kriege auslösen können, sind sie der Schlüssel für Frieden und Stabilität.
Aber ist es nicht gewagt, eine Friedensformel vorzuschlagen? Und lässt sich eine solche auf Konflikte wie in der Ukraine und im Nahen Osten anwenden? Ein Gespräch über die Bedeutung von Handel, erfolgreiche Beispiele für Frieden und die Rolle der humanitären Schweiz.

Herr Rohner, was hat Sie dazu bewogen, das Buch «The Peace Formula» – die Friedensformel – zu schreiben?
Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit Konflikt- und Friedensforschung. Das menschliche Leid dahinter ist unvorstellbar. Bewaffnete Konflikte haben weltweit seit dem 19. Jahrhundert Hunderte Millionen Menschenleben gefordert. Brechen Konflikte aus, spielen wirtschaftliche Faktoren einen grossen Einfluss.
Wie denn?
Kriege machen die Leute ärmer. Armut wiederum befeuert Kriege. Bürgerkriege führen dazu, dass das Bruttoinlandprodukt von betroffenen Ländern durchschnittlich um fast ein Fünftel sinkt. Es dauert lange, bis sich ein Land davon erholt. Mich interessiert deshalb, wie sich solche Katastrophen verhindern lassen.
Sie beschreiben in Ihrem Buch «Stimme, Arbeit und Sicherheitsgarantien» als unerlässliche Faktoren für eine Friedensformel. Was meinen Sie damit?
Es befindet sich ein Viertel aller Länder in einem Konflikt, das sind mehr als 50 Staaten. Die Mehrheit dieser bewaffneten Auseinandersetzungen sind Bürgerkriege. Das ist ein düsterer Höhepunkt. Betrachten wir vor allem Bürgerkriege aus wissenschaftlicher Sicht, so lassen sich langfristig drei grundsätzliche Stützen für Stabilität und Frieden in einer Region herausschälen. Die erste beinhaltet demokratische Freiheiten und ein Mitspracherecht, also eine Stimme.
Und der zweite Faktor?
Eine produktive Wirtschaft, die eine Perspektive auf Arbeit und damit Wohlstand gibt. Man ist dann weniger bereit, einem Warlord als einfacher Fusssoldat zu folgen. Der dritte Punkt ist die Garantie, dass die Sicherheit gewährleistet ist. Nur so kann die Wirtschaft beispielsweise genügend Investitionen erhalten, weil es ein sicheres Umfeld für eine Volkswirtschaft gibt und das Bildungs- und das Gesundheitswesen funktionieren.

Gibt es ein Beispiel, wo die Friedensformel funktioniert hat?
Eines von vielen Beispielen ist die Schweiz. Nach Ende des Sonderbundskriegs 1847 verzichteten die Heere der siegreichen protestantischen Kantone darauf, Massaker an den unterlegenen Katholiken zu verüben. Im Mittelalter wäre das noch gang und gäbe gewesen. Stattdessen versuchten die Sieger etwas anderes.
Nämlich?
Sie teilten ihre Macht und schrieben diese urdemokratische Idee in der ersten Verfassung des modernen Bundesstaates von 1848 fest. Das wirkt sich bis heute aus: Aus einem der ärmsten Länder Europas ist eine der wohlhabendsten Nationen weltweit mit einer stabilen Demokratie und leistungsfähigen Wirtschaft entstanden.
Kann es nicht als westliche Arroganz gelten, so etwas Komplexes wie Frieden in eine einfache Formel pressen zu wollen?
Die Erkenntnisse im Buch beruhen auf Hunderten Statistiken und Studien, die sich mit Konflikten auf der ganzen Welt befasst haben. Häufig handelt es sich um wissenschaftliche Arbeiten, welche die Ursachen und Folgen eines Kriegs über mehrere Jahrzehnte untersucht haben. Viele davon kommen zum Schluss, dass Mitspracherecht, Arbeit und Sicherheit die Chancen auf Frieden erhöhen – und zwar unabhängig davon, auf welchem Kontinent ein Konflikt stattfindet. Ich versuche, westliche Voreingenommenheit zu vermeiden.
Im Moment beobachten wir in Europa und in den USA aber einen gegenläufigen Trend zu Protektionismus und Nationalismus.
Fakt ist, dass Handel zum Frieden beiträgt. Wenn Sie mit jemand anderem Geschäfte machen, so führt das zu einem persönlichen Kontakt und einer gewissen gegenseitigen Abhängigkeit. Ein Konflikt kann darum unter Umständen kostspielig sein. Deshalb steigt die Hemmschwelle für einen Angriff. Neue Studien offenbaren die wichtige Rolle von persönlichen Kontakten mit Fremden.
Wie das?
Soldaten, die per Zufall ausserhalb ihrer Heimatregion kaserniert waren, entwickelten mehr Offenheit und Vertrauen gegenüber Fremden sowie eine grössere Identifizierung mit dem eigenen Land. Das wiederum ist zuträglich für den Handel. Aus diesem Blickwinkel geht die Tendenz zu Nationalismus und Protektionismus in die falsche Richtung.
Der Krieg in der Ukraine und der Konflikt im Nahen Osten beschäftigen derzeit die Menschen in Europa. Inwiefern liesse sich die Friedensformel hier anwenden?
Direkt lässt sich die Friedensformel nicht auf diese beiden Konflikte übertragen, aus dem einfachen Grund: Meine Erkenntnisse sind vor allem aus Datenmaterial zu Bürgerkriegen entstanden, das reichlich vorhanden ist. Hingegen gibt es weniger Daten zur Art von Kriegen, wie wir das in der Ukraine oder im Nahen Osten sehen. Trotzdem möchte ich versuchen, Ihre Frage zu beantworten.
Bitte.
Meine Lesart der aktuellen Ereignisse im Nahen Osten ist folgende: Seit dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und der militärischen Reaktion der israelischen Armee hat es unzählige zivile Todesopfer gegeben. Wir reden laut neuesten Schätzungen der palästinensischen Behörden von über 41’000 Toten bei den Palästinensern und laut israelischen Schätzungen von über 1200 Toten auf israelischer Seite. Hinzu kommen zahllose Verletzte und massive Zerstörung. Im Libanon sprechen wir von über 1400 Todesopfern und über 1 Million Menschen, die ihre Wohnungen verlassen mussten. Bei diesem schieren Ausmass einer humanitären Katastrophe braucht es kurzfristig einen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und eine politische Lösung.

Reicht das?
Mittelfristig könnte eine Zweistaatenlösung mit einem Wiederaufbauprogramm für den palästinensischen Staat eine Perspektive bieten. Und natürlich müsste es das Ziel sein, dass Israel und der palästinensische Staat Wirtschaftsbeziehungen aufnehmen.
Was ist mit der Ukraine?
Wie im Nahen Osten ist hier ebenfalls das unermessliche menschliche Leid festzuhalten. Schätzungen gehen von insgesamt über eine Million Toten und Verletzten seit der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 aus. Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage einer politischen Lösung. Von verschiedener Seite wurde zum Beispiel vorgeschlagen, den Konflikt regelrecht einzufrieren. Dann stellt sich aber die Frage, unter welchen Bedingungen das geschehen soll.
Warum sollten verfeindete Parteien, die sich zum Teil abgrundtief hassen, plötzlich Handel miteinander treiben?
Diesen Entscheid können nur souveräne Völker für sich treffen. Ich meinerseits kann einzig auf wissenschaftlich gesicherte Fakten hinweisen: Es gibt Faktoren, die zu Frieden zwischen den Völkern beitragen. Der Wille zum Kontakt mit Fremden gehört dazu, und gegenseitiger Handel.

Sie nennen in Ihrem Buch auch Irrtümer, die entgegen der landläufigen Meinung nicht zu Frieden und Stabilität führen. Welche sind das?
Schnelle Interventionen sind nicht unbedingt die besten. Politiker müssen ihre Wiederwahl berücksichtigen und sind deshalb häufig von kurzfristigen Anreizen getrieben. Das führt dazu, dass sie lieber einen schnellen Deal mit zwielichtigen Gruppierungen suchen, um einen vermeintlichen Erfolg bei den Wählern zu verbuchen, anstatt langfristig zu denken. Nehmen wir den Krieg in Nicaragua. In der Logik des Kalten Kriegs wollten die USA dort die linksgerichtete Regierung der Sandinisten, unterstützt durch die Sowjetunion, mithilfe der brutalen Contra-Rebellen stürzen. Der Konflikt dauerte neun Jahre, war von massiven Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet und forderte unzählige Menschenleben.
Welche Rolle kann die Schweiz bei der Anwendung einer Friedensformel spielen?
Wir sind unter den Weltmeistern bei der Vermittlung von Frieden. Dank unseres diplomatischen Corps, des humanitären Genfs und zahlreicher Nichtregierungsorganisationen verfügt die Schweiz über eine wertvolle Expertise als Friedensmacherin. Es ist deshalb auch nicht absurd, dass hierzulande über Konflikte und Frieden geforscht wird. Daraus die nötigen Schlüsse zu ziehen und diese anzuwenden, gehört zum Erbe der Schweiz.
Sie bleiben vage. Was sind denn die nötigen Schlüsse, etwa mit Blick auf Gute Dienste und Entwicklungshilfe?
Es lohnt sich immer, in das internationale Genf zu investieren. Die Bedeutung dieser Welthauptstadt des Friedens darf nicht unterschätzt werden. Wenn wir uns mehr einbringen in Mediation sowie Friedensvermittlung und ein Land sind, das alle Konfliktparteien anhört, leisten wir einen wichtigen Beitrag an die ganze Welt. Würde die Schweiz ihre langjährige humanitäre Erfahrung und Tradition aufgeben, könnte ein anderes Land dieses Know-how nicht einfach über Nacht ersetzen.
Sind Sie schon angefragt worden, um Ihr Wissen einzubringen?
Es gibt vereinzelt Kontakte mit dem Departement des Äusseren. Ich bin offen, mich mehr einzubringen.
* Dominic Rohner: «The Peace Formula». Cambridge University Press. 248 Seiten, 30 Pfund
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