Leitartikel zur UkraineDer schleichende Verrat Europas an der Ukraine
Die europäischen Staaten beteuern immer wieder ihre unbedingte Unterstützung für das Land – klappen aber zusammen, als der US-Präsident ein Treffen absagt. Europa zeigt sich führungslos und lässt Kiew im Stich.
Rast ein Hurrikan ungewisser Zerstörungskraft auf Florida zu und herrscht noch dazu Wahlkampf, ist es nachvollziehbar, dass ein US-Präsident seine Reise zu einem europäischen Freund vorerst lieber bleiben lässt, um daheim Präsenz zu zeigen. Vergangene Woche betraf das Joe Bidens Reise nach Deutschland, und der Wirbelsturm hiess Milton.
Dass deswegen aber eine Versammlung europäischer Verbündeter ins Wasser fällt, die sich immer wieder damit brüsten, die Ukraine gemeinsam zu unterstützen, wo es nur geht? Mit der Absage des Ramstein-Treffens war der Schaden angerichtet. Ohne die Amerikaner ging nichts – und die europäischen Freunde der Ukraine standen einmal mehr führungslos da.
Europa, allen voran Deutschland, aber auch Frankreich und Grossbritannien, zeigt sich verhakt in innenpolitischen Problemen. Rufe nach «Frieden jetzt!» und «Verhandlungen am besten schon morgen!» schwellen an, mitunter völlig losgelöst von der Realität auf dem Schlachtfeld in der Ukraine. Leidtragende in diesem Trauerspiel sind der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski und mit ihm sein ganzes Land.
Schweiz schert aus
Die Absage kam für die Ukraine zur Unzeit. Dort verfolgt man ebenso den US-Wahlkampf wie den EU-Gipfel in dieser Woche und genauso die Zerstrittenheit der deutschen Regierung über die Frage, wie deren Ukraine-Hilfe weiter finanziert werde. Ausserdem widerspricht die Entscheidung der Schweiz, die EU-Sanktionen gegen Russland nicht mehr vollständig mitzutragen, einem starken europäischen Auftreten gegen den Aggressor.
Viel debattiert werden auch Äusserungen des eben abgetretenen Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, der nun in einem Interview die mögliche Zukunft der Ukraine skizzierte anhand des Beispiels Finnland, das einst 10 Prozent seines Territoriums an die Sowjetunion verlor. Bei der Ukraine geht es derzeit um knapp 20 Prozent Land.
Die Solidarität mit Worten ist nach wie vor gross. Die mit Taten hingegen erschreckend gering. Ernst genommen wird die Ukraine immer noch nicht. Trotz jahrelangem Krieg gegen den Aggressor Russland.
Dem ukrainischen Präsidenten bleibt derzeit nichts anderes übrig, als in Europa auf Betteltour zu gehen. Dubrovnik, London, Paris, Rom, Berlin, am Donnerstag Brüssel – per «Siegesplan» erbittet er weitere Waffen, eine Nato-Einladung und das Recht, weit nach Russland schiessen zu dürfen. Er erhält viele warme Worte und auch einige Waffen, ansonsten bleibt Europa planlos.
Der Ukraine läuft die Zeit davon – Putin freut sich
Das ist gefährlich. Der Ukraine läuft die Zeit davon. Der Winter naht, und Städte und Regionen könnten in Dunkelheit und Kälte versinken, weil die russischen Drohnen und Raketen gezielt Kraftwerke und Versorgungsleitungen angreifen. Waffen und Personal werden immer knapper und damit auch die Moral der Kämpfenden.
Gefährlich ist das auch, weil sich einer freut.
Wladimir Putin schaut vom Kreml aus zu, wie sich die westlichen Verbündeten der Ukraine Bekenntnis für Bekenntnis unglaubwürdiger machen. Er kann es sich leisten, zu warten. Russland hat das nötige Kriegsmaterial und das menschliche Kanonenfutter. Putins Armee profitiert davon, dass der Krieg immer internationaler wird: Waffen kommen aus dem Iran und aus Nordkorea. Sogar für Russland kämpfende nordkoreanische Soldaten wurden in der Ukraine gesichtet. Der Kreml kann noch jahrelang Krieg führen.
So gesehen sind angesichts der täglich sterbenden Menschen in der Ukraine, der Hunderttausenden Vertriebenen und der Orte und Städte, die ausgebombt darniederliegen, Rufe nach einem Waffenstillstand zunächst verständlich.
Mehr Waffen, mehr Glaubwürdigkeit
Doch bei fehlender Führung des Westens eben auch gefährlich. Sollen Verhandlungen geführt werden, muss vorher der Ukraine zu einer starken Verhandlungsposition verholfen werden – dazu zählt, sie militärisch viel stärker zu machen, als sie jetzt ist, mit Taurus-Waffen und der Freigabe, weit in Russland angreifen zu dürfen.
Noch viel entschlossener sollte ihr Weg in die Nato geebnet werden. Nach Jahren grosser Versprechen, man stünde an der Seite der Ukraine, und Russland müsse verlieren, darf es gerade in diesen so heiklen Wochen nicht bei Worten bleiben. Nur so kann der Westen seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen und Russland abschrecken. Das ist nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch des Kontinents. Zudem ist noch ungewiss, wie Verhandlungen aussehen könnten, da Putin bekanntlich die gesamte Ukraine und nicht nur die bereits völkerrechtswidrig annektierten Regionen kontrollieren will.
Gelingt das den westlichen Verbündeten nicht bald, droht der militärische Zusammenbruch der Ukraine. Die Sicherheit in Europa stünde auf dem Spiel. Ausserdem dürften sich andere Autokraten und Diktatoren wie Xi Jinping oder Kim Jong-un ermuntert fühlen, ihre lang gehegten Ziele, die Wiedervereinigung Chinas respektive Nordkoreas, mit Gewalt anzustreben.
Die Ukraine will als Staat behandelt werden, der auf gleicher Höhe steht wie seine Verbündeten. Im Westen aber überwiegt die Eskalationsangst. Es fehlt der Mut, die eigenen Werte zu verteidigen. Das ist Verrat an der Ukraine.
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