Werben um «Siegesplan»Selenski ist auf der Suche nach Hilfe – während daheim das Vertrauen schwindet
Korruption, Deserteure und eine stockende Mobilisierung: Die Problemliste des ukrainischen Präsidenten ist lang. Dass der Ramstein-Gipfel verschoben wurde, kommt für Kiew zur Unzeit.
- Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wirbt in westlichen Hauptstädten für seinen «Siegesplan».
- Dass der Ramstein-Gipfel verschoben wurde, kommt für Kiew zur Unzeit.
- Korruption und Vetternwirtschaft setzen Selenski innenpolitisch unter Druck.
- Die Mobilisierung von Soldaten in der Ukraine stockt.
Ausserhalb von westlichen Regierungssitzen und Verteidigungsministerien dürfte bislang wohl kaum jemand wissen, wer Anatoli Barhilewitsch ist. Doch der 55 Jahre alte ukrainische General hat eine zentrale Aufgabe: In Washington erläutert der Chef des Generalstabes der ukrainischen Armee den US-Kollegen, dem US-Verteidigungsminister und den Mitarbeitern von US-Präsident Joe Biden, wie sich sein Chef, Präsident Wolodimir Selenski, den weiteren Verlauf des Krieges vorstellt.
Des Generals Mission ist umso wichtiger, als erst Präsident Biden seine Teilnahme am eigentlich für den 12. Oktober geplanten Ramstein-Gipfel wegen der Hurrikane in den USA absagte und das Treffen daraufhin verschoben wurde.
Seit Wochen wirbt Selenski für einen «Siegesplan», dessen Umriss er kürzlich in Washington sowohl Biden wie den Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris und Donald Trump vorstellte. Nach dem, was bis jetzt bekannt ist, verbirgt sich hinter der grandiosen Bezeichnung vor allem der Wunsch nach möglichst vielen weiteren westlichen Waffen – und dem grünen Licht Bidens, US-Waffen systematisch auch gegen Ziele auf russischem Territorium einsetzen zu dürfen.
Aus Sicht Kiews drängt die Zeit, kommt die Verschiebung des Ramstein-Treffens zur denkbar schlechtesten Zeit. Mehr Waffen und Zusagen sollen noch vor der US-Präsidentschaftswahl erfolgen.
Derzeit steht es für Moskau besser als für Kiew
Vor einem Treffen mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz wollte Selenski auch in London, Paris und Rom für mehr Waffen werben. In Kiew fürchtete die «European Pravda» unterdes, mit der Verschiebung des Ramstein-Treffens auf unbestimmte Zeit sei für die Ukraine «das letzte offene Fenster» geschlossen worden, neue Hilfe und Zusagen rechtzeitig vor der US-Wahl zu bekommen.
Der ukrainische Präsident liess keinen Zweifel daran, dass er Verhandlungen mit dem russischen Diktator Wladimir Putin zum jetzigen Zeitpunkt für aussichtslos hält. «Putin hat null Interesse, den Krieg zu irgendwelchen vernünftigen Bedingungen zu beenden … Jeder Verhandlungsprozess würde erfolglos sein, wenn er mit Putin oder seiner Umgebung stattfindet, wo alle seine Marionetten sind.» Stattdessen solle der «Siegesplan» die Ukraine so stärken, dass Putin klar werde, dass er nicht gewinnen könne.
Tatsächlich aber dreht sich das Kriegsglück gerade zugunsten Moskaus. Langsam, doch beharrlich arbeiten sich Moskaus Truppen etwa in der Ostukraine weiter vor, wenn auch unter massiven Verlusten. Doch auch die Ukrainer dürften mittlerweile weit über 100’000 tote und noch mehr verletzte Soldaten zu beklagen haben.
Und während Putin den Krieg angesichts einer viermal grösseren Bevölkerung und immer noch sprudelnder Öl- und Gasmilliarden sowohl materiell wie personell vergleichsweise problemlos fortführen kann, ist die schätzungsweise 450’000 Soldaten starke ukrainische Armee vielerorts ausgelaugt, stockt nach einem kurzen Zwischenhoch auch die Mobilisierung neuer Soldaten – und das offenbar massiv.
Offizier beklagt «Absturz der Mobilisierung»
Roman Kostenko, selbst Offizier und Sekretär des Verteidigungsausschusses im ukrainischen Parlament, kritisierte am 30. September im Radiosender NV den «Absturz der Mobilisierung». Nicht nur sei die Zahl der Einberufenen zu gering, sondern auch ihre Auswahl ein Problem, weil auch nur bedingt Taugliche einberufen würden und so «niemand auf dem Kampffeld ist»: Ukrainische Offiziere beklagen inoffiziell, einberufene Soldaten seien zu alt, zu gebrechlich oder Alkoholiker.
Der «Economist» berichtete, fünf bis zehn Prozent aller auf dem Papier aktiven Soldaten seien ohne Erlaubnis abwesend, im Klartext: Deserteure. Der Parlamentsausschussvorsitzende Dmitro Natalucha schätzte Anfang August, bis zu 800’000 ukrainische Männer seien untergetaucht, um einer Einberufung zu entgehen.
Das begrenzt den militärischen Handlungsspielraum des Präsidenten. Kostenko forderte Selenski auf, das immer noch bei 25 Jahren liegende Mindestalter für die Einberufung an die Front zu senken, was westliche Militärs seit langem fordern. Der Präsident scheut diese Massnahme seit Anfang der russischen Invasion. Und mit seiner Forderung steht Kostenko im Parlament nahezu allein: Am 9. Oktober nahm das Parlament mit Mehrheit der Präsidentenpartei Diener des Volkes ein Gesetz an, das die Einberufung unter 25 Jahren ausdrücklich verbietet.
Auch andere Faktoren begrenzen Kiews Spielraum. Nach den massiven russischen Bombardements auf die Energieversorgung, denen weitere folgen dürften, befürchtet die UNO-Menschenrechtsmission in der Ukraine für den Winter Stromabschaltungen von bis zu 18 Stunden täglich. Zudem sind die Kassen leer, klafft gemäss dem Ministerpräsidenten allein im Haushalt 2024 trotz aller internationalen Kredite und Zuschüsse ein Loch von 15 Milliarden Dollar.
Ob und inwieweit die neueste EU-Zusage von Darlehen über 35 Milliarden Euro dieses Loch stopfen kann, ist ungewiss. Nun beschloss das ukrainische Parlament am 10. Oktober massive Steuererhöhungen: Die aber sind umso unpopulärer, als die landesweite Vetternwirtschaft und Korruption unter dem seit 2019 regierenden Selenski nicht ab-, sondern laut Beobachtern noch zugenommen hat.
Mitarbeiter fast sämtlicher auf dem Papier Recht und Ordnung verpflichteten Behörden – vom Geheimdienst SBU über die Generalstaatsanwaltschaft und die Steuerbehörden bis zu einem von Selenski vordergründig zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität geschaffenen Büro für wirtschaftliche Sicherheit – tun sich selbst durch rechtswidrigen Druck auf Geschäftsleute, Erpressung und Bestechlichkeit hervor.
Der Kiewer Wirtschaftsprofessor Andrei Dligatsch konstatierte Anfang Oktober in der angesehenen Internetzeitung «Zerkalo Nedeli», die Korruption nehme im Krieg weiter zu; ihr Umfang sei höher als die Gewinne aller ukrainischen Unternehmen zusammengenommen. 45 Prozent der Unternehmen klagen über rechtswidrigen Behördendruck – etwa mit erfundenen Steuerforderungen oder manipulierten Anklagen – in den letzten zwei Monaten. Fast ein Drittel der Unternehmer gab an, die Lage habe sich weiter verschlechtert.
Mutter und Sohn bunkerten sechs Millionen Dollar in bar
Welch gigantisches – und systemisches – Ausmass die Korruption annimmt, zeigt ein Fall aus der westukrainischen Region Chmelnizki: Dort wurden Anfang Oktober die Leiterin des regionalen Zentrums für medizinische Expertise und ihr für die Rentenkasse arbeitender Sohn festgenommen. Mutter und Sohn stellten mutmasslich gefälschte Invalidenbescheinigungen aus. In ihrer Wohnung wurden dem Geheimdienst SBU zufolge neben kostbaren Juwelen auch fast sechs Millionen Dollar in bar gefunden. Ausserdem sollen es Mutter und Sohn zu neun Autos und 30 Immobilien in der Ukraine und weiteren in Österreich, Spanien und der Türkei gebracht haben – neben ausländischen Bankkonten von 2,3 Millionen Dollar. Ohne Angabe der für alle Staatsdiener vorgeschriebenen Vermögenserklärungen. Trotz des sagenhaften und sichtbaren Reichtums fand offenbar jahrelang nie eine Prüfung statt.
Selenski hält an Mitarbeitern fest, die als korrupt gelten
Laut dem Kiewer Internationalen Institut für Soziologie (KIIS) sind Korruption und Selenskis Festhalten an der Korruption beschuldigten Mitarbeitern wie seinem Vizeverwaltungschef Oleh Tatarow ein Hauptgrund für das deutlich gesunkene Vertrauen in Selenski, seine Regierung und seine Partei. Nur noch gut 7 Prozent bewerten die Präsidentenpartei Diener des Volkes als gut, 55 Prozent als schlecht oder sehr schlecht.
Auch Selenski hat stark an Vertrauen eingebüsst – nicht zum ersten Mal. 2019 startete der Präsident sein Amt mit mehrheitlicher Zustimmung: Im Dezember 2019 vertrauten ihm einer Rating-Umfrage zufolge 36 Prozent der Ukrainer vollständig und weitere 31 Prozent überwiegend. Schon im Oktober 2020 aber war das vollständige Vertrauen auf knapp 14 Prozent abgestürzt, knapp 24 Prozent vertrauten dem jungen Präsidenten noch überwiegend. Grund waren schon damals die unverminderte Korruption und Skandale in Selenskis Apparat. Im Dezember 2021 – zwei Monate vor dem russischen Überfall – vertrauten ihm gemäss dem US-amerikanischen National Democratic Institute nur noch 18 Prozent.
Putins Invasion trieb die Zustimmung für den mutigen, im Land gebliebenen Präsidenten nach oben, doch seitdem bröckelt sie. Im Mai 2024 gaben dem KIIS gegenüber 91 Prozent der Befragten an, der Armee zu vertrauen – und nur noch 45 Prozent dem Präsidenten. Selenski, dessen fünfjährige Amtszeit ausgelaufen ist, rettet bis anhin, dass Wahlen im Kriegszustand per Gesetz verboten sind – und immer noch 72 Prozent der Befragten zustimmen, dass Wahlen erst nach Kriegsende stattfinden sollen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.