Faszinierender RadprofiSonderling und Streber – so wurde Matej Mohoric zum waghalsigsten Abfahrer
Der Slowene reizte schon als Kind die Grenzen aus. Und tut das noch heute. Obwohl ihn der Tod von Gino Mäder gerade wieder stark beschäftigt.
Er sei «nicht superemotional», wenn es um seinen Sport gehe. Das sagt Radprofi Matej Mohoric von sich. Und doch ringt der Slowene dieser Tage an der Tour de France um die Fassung, die er im vergangenen Jahr nur mühsam wiedergefunden hat.
Die Nachricht des Todes des jungen Norwegers André Drege an der österreichischen Rundfahrt hat vor wenigen Tagen seine Gefühlswelt aus den Fugen gehoben. «All die Emotionen sind wieder da, als wäre es eben erst passiert und nicht schon vor einem Jahr», sagt der Mann, der in der diesjährigen Tour de France auf einen Etappensieg aus ist. Es – das ist der fatale Sturz seines Teamkollegen Gino Mäder an der Tour de Suisse. Und wie damals spricht der Slowene die tragische Tatsache nicht aus. Es – das muss reichen.
Unter anderem sind es die Parallelen zwischen den Unfällen, die die Wunden des 29-Jährigen aufreissen: Mäder und Drege sind fast gleich alt, als sie in einer langen Abfahrt zu Fall kommen und aus dem Leben gerissen werden. Drege vor rund einer Woche, Mäder vor einem Jahr.
Das Mitleid mit dem Gegner
Damals, im Juli 2023, liefert Matej Mohoric – der Analytiker des Pelotons – einen Monat nach Mäders Tod eines der ergreifendsten Siegerinterviews überhaupt. Kurz nachdem er im Schlusssprint der 19. Etappe der Tour de France Kasper Asgreen um wenige Zentimeter besiegt hat. Einer jener zwei Fahrer, mit denen sich Mohoric zuvor in der Ausreissergruppe über etliche Kilometer hinweg gegen das Peloton behauptet hatte. Ein Husarenritt, der nur dank der gebündelten Kräfte gelang.
«Es ist grausam, Radprofi zu sein. Man leidet viel in den Vorbereitungen, man opfert sein Leben, seine Familie, um für die Tour de France bereit zu sein. Alles nur, um nach einigen Tagen zu realisieren, dass alle so unglaublich stark sind. Man bekommt das Gefühl, nicht hierherzugehören. Ich wusste, dass ich alles perfekt machen muss, auch für Gino, und gleichzeitig, dass alle anderen ebenso leiden. Es fühlt sich an, als würde man seine Mitstreiter verraten, wenn man sie auf der Ziellinie schlägt. Ich konnte nur gewinnen, indem ich an Kaspers Rad klebte und ihm dann den Sieg raubte. Das ist so grausam.»
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Der Slowene hat Tränen in den Augen, immer wieder versagt seine Stimme. Er, der sonst penibel versucht, so viele Variablen wie möglich zu kontrollieren. Mohoric sucht keine Ausflüchte, wenn er seinen eigenen Erwartungen nicht gerecht wird – das würde seine Analysen verfälschen. Eher geht er hart mit sich ins Gericht und sagt Sätze ins Mikrofon wie: «Ich habe es richtig vermasselt.» Doch in diesem Moment schlingert Mohoric zwischen Trauer und Erleichterung, zwischen Bescheidenheit und Stolz.
Mohoric wäre nicht Mohoric, wenn er diesem Gefühlsausbruch nicht auf den Grund gegangen wäre. So viele Emotionen hatten sich aufgestaut, sie brauchten Luft – und «vielleicht gibt es zwei ganz verschiedene Seiten in meiner Persönlichkeit», sinniert er auf seinem Hometrainer.
Und Mohoric wäre nicht Mohoric, wenn er nicht auch selbstkritisch zurückblicken würde. Es sei ihm nicht leicht gefallen, in einer Fremdsprache die richtigen Worte zu finden, um zu sagen, was ihm so schwer auf dem Herzen lag.
«Ich bin ein analytischer Mensch und versuche, mir so viel Wissen wie möglich anzueignen. Egal, ob es dabei um Ernährung, Trainingsmethoden oder andere Aspekte im Leben geht, die mich verbessern – nicht nur als Radfahrer, sondern auch als Mensch. Gleichzeitig hänge ich sehr an Mitmenschen. Zum Beispiel an meinen Kollegen, aber auch an einigen meiner Konkurrenten. Wir verbringen auf den Rundfahrten viel Zeit miteinander. Wird man in einem Rennen abgehängt, findet man sich in einer grossen Gruppe von Jungs wieder. Wir vertreiben uns dann die Zeit bis ins Ziel und tauschen uns aus – das schweisst uns zusammen. Ich fühle mit vielen von ihnen mit.»
Doch bei aller Empathie steckt im Slowenen auch jener Killerinstinkt, der die Gewinner vom Rest des Pelotons unterscheidet. Der Wille, im richtigen Augenblick über sich – und den Gegner – hinauszuwachsen. Mohoric vergleicht die entscheidenden Momente eines Rennens mit einem Videospiel. Dann fühlt er sich wie ein Kind, das plötzlich zum Protagonisten wird, beflügelt von unbegrenzten Möglichkeiten. Oder eben von der Trauer um den verlorenen Kollegen.
Er war ein Sonderling, der Streber
Von dieser emotionalen Achterbahn weiss der kleine Matej nichts, als er in einem Weiler in der Nähe der slowenischen Stadt Kranj aufwächst. Ein Sonderling, der die Freiheit geniesst, die ihm das Fahrrad schenkt, und dadurch endlich Gleichgesinnte findet – im örtlichen Veloclub. Im Interview, das er jüngst auf seinem Hometrainer gibt, analysiert er:
«Dort war ich besser akzeptiert als in der Schule, wo ich als Streber galt. Meine Hand gehörte meist zu den Ersten, die hochschossen, kaum hatte der Lehrer etwas gefragt. Schulschwänzen? Kein Thema. All das machte mich manchmal zum Gespött. Im Sport ist das anders. Dort ärgert man niemanden, der Dinge lernen will, um besser zu werden – im Gegenteil.»
Es sind schliesslich Matejs Wissenshunger und seine Experimente, die ihn schon früh zu einem bemerkenswerten Abfahrer machen. Immer und immer wieder fährt er dieselben Kurven vom elterlichen Hof hinunter ins Dorf. Getrieben von einem latenten Perfektionismus, sucht er dabei die optimale Linie, steigert das Tempo so lange, bis er stürzt. Akribisch analysiert und notiert er die manchmal schmerzhaft gewonnenen Erkenntnisse. Rückblickend bezeichnet er sein Vorgehen als «nicht die beste Idee». Lausbübisch lächelnd schiebt er nach: «Aber effizient war es.»
Nach diesem Prinzip trainiert der Slowene manchmal heute noch – wenn auch mit weniger Risiko. Stets bestrebt, sich selbst und sein Fahrgeschick zu optimieren. Zum Beispiel vor dem legendären Eintagesrennen Mailand–Sanremo. Üblicherweise wird der Klassiker im Aufstieg zum Poggio entschieden, dem eine Abfahrt mit mehreren Haarnadelkurven folgt. Dieser Streckenabschnitt kurz vor dem Ziel ist Mohorics Revier – nicht nur weil er unweit davon in Monaco lebt. Er liebt dieses Rennen. Vor der Austragung 2022 nimmt er die schwierige Abfahrt wie damals als Kind immer und immer wieder unter die Räder. So lange, bis er weiss, wie er die Kurven meistern muss, um auf schnellstem Weg hinunterzudonnern.
Als es dann ernst gilt, schafft er es mit der Spitzengruppe auf den Poggio – und geht aufs Ganze. Keiner kann am Rad des Slowenen bleiben – auch die Stars Tadej Pogacar, Mathieu van der Poel und Wout van Aert nicht. Mohoric fährt, als gäbe es kein Morgen, und rettet seinen Vorsprung ins Ziel. Er reisst erst jubelnd die Arme hoch, um dann auf sein Rad zu zeigen. Darin war eine absenkbare Sattelstütze eingebaut – so wie bei den Mountainbikern. Ein kleines Detail, das ihm eine grössere Bewegungsfreiheit schenkte, um die Abfahrt zu meistern. Tagelang sorgte die Tüftelei à la Mohoric für Gesprächsstoff.
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Seine Art, die Berge hinunterzuschnellen, hat sich auch nach dem Tod von Teamkollege Mäder in der Abfahrt des Albulapasses nicht geändert. Vielleicht ist aber sein stets kritischer Blick noch ein bisschen ernster geworden, wenn er sagt: «Ich habe keine Angst und glaube an das Schicksal. Ich liebe es, zu leben. Wenn ich in die Pedale trete und bergab fahre, fühle ich mich lebendig. Natürlich habe ich viel nachgedacht, was mit Gino passiert ist, habe hinterfragt, warum ich das alles mache und wie es weitergehen soll. Wenn ich da rausgehe, komme ich energiegeladen zurück und im Reinen mit mir selbst. Ich glaube nicht, dass ich ein glücklicher Mensch wäre, würde ich es aufgeben.»
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