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Weltnaturerbe an der Nordsee
Wie Tiere im Watten­meer mit dem Klima­wandel klarkommen

Footprints in the mudflats
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Das Watt ist eine Landschaft, in der Ebbe und Flut zweimal am Tag alles verändern. Riesige Sandbänke ragen in einem Moment wie Wüsten aus dem Ozean – um im nächsten Moment wieder zu verschwinden, als wären sie eine Fata Morgana. Wirbellose Wesen, Algen, Pilze, Muscheln, Vögel und Säugetiere bilden Lebensgemeinschaften, wie es sie nirgends sonst gibt. 500 Kilometer Watt erstrecken sich vom dänischen Esbjerg bis zum niederländischen Den Helder.

Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten der steigende Meeresspiegel und die Erwärmung Teile davon zerstören. Gleichzeitig kommt neues Leben in Europas grösstes Feuchtgebiet. Zeit für einen Spaziergang durch die sich wandelnde Landschaft, um zehn Wattbewohner inmitten der Veränderung zu beobachten.

Austernfischer: Halligstorch in Not

Austernfischer (Haematopus ostralegus), Austernfischer mit Beute, Deutschland, Schleswig-Holstein, Nordfriesland, Hallig Hooge palaearctic oystercatcher (Haematopus ostralegus), Oystercatcher with prey, Germany, Schleswig-Holstein, Northern Frisia, Hallig Hooge BLWS432769 Copyright: xblickwinkel/H.xBaesemannx

Oyster fishermen Haematopus ostralegus Oyster fishermen with Prey Germany Schleswig Holstein North Friesland Hallig Hooge Palaearctic oystercatcher Haematopus ostralegus oystercatcher With Prey Germany Schleswig Holstein Northern Frisia Hallig Hooge  Copyright xblickwinkel H xBaesemannx

Kein Wattbesucher kann sie übersehen: Austernfischer sind das Aushängeschild des Nordens. 40’000 Paare besiedeln das Wattenmeer, damit ist es der wichtigste Lebensraum für den auffälligen Vogel. Das schwarz-weisse Gefieder und der orangerote Schnabel haben ihm den Spitznamen Halligstorch eingetragen. Auch wenn sie noch häufig sind: Austernfischer kämpfen ums Überleben. Ihre Zahl ist in zwanzig Jahren um die Hälfte eingebrochen. Bei keinem Wattvogel kommen so viele Gefahren zusammen: Überfischung lässt Muscheln als Nahrung schwinden, Feinde wie die Wanderratte und der Fuchs breiten sich aus, und allen voran macht der Klimawandel den Vögeln das Leben schwer. Der Meeresspiegelanstieg lässt ihre Strandlebensräume unerbittlich schrumpfen. Austernfischer könnten darum zum ersten Klimaopfer unter den Brutvögeln werden. Um vier Millimeter steigt das Wasser im Watt pro Jahr. Was nach wenig klingt, ist in der brettflachen Küstenlandschaft eine Menge. Immer häufiger schwappen Wellen selbst bei kleinen Hochwassern bedrohlich nahe an die Vogelnester auf dem Strandboden, immer häufiger werden Eier fortgeschwemmt.

Nach Prognosen des deutschen Bundeslandes Schleswig-Holstein könnten Austernfischer ohne Gegenmassnahmen bis zum Ende des Jahrhunderts aus dem Wattenmeer verschwinden. Die Vögel weiten ihr Brutgebiet seit einigen Jahren ins Binnenland aus. Und einen Plan B hat sich der Halligstorch von den Möwen abgeschaut: Immer häufiger brüten Austernfischer-Paare auf Flachdächern – geschützt vor Fuchs und Hochwasser.

Seepferdchen: Ex-Bewohner vor dem Comeback?

Der kleine Fisch mit Pferdekopf und Ringelschwanz zeigt sich immer häufiger im Wattenmeer.

Es ist ein Tier, das wegen seiner unglaublichen Niedlichkeit wirklich alle lieben: das Jahrhunderte aus dieser Gegend verschwundene Seepferdchen. Erlebt das märchenhafte Geschöpf durch Klimawandel und Naturschutz ein Comeback? Eine gesicherte Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht. Klar ist aber: Der kleine Fisch mit Pferdekopf und Ringelschwanz zeigt sich immer häufiger im Wattenmeer. Wurde zuvor nur ein Seepferdchen alle vier oder fünf Jahre an den Stränden der Nordseeinseln oder in Fischnetzen entdeckt, sind es in den vergangenen drei Jahren schon fast hundert. Dass auch lebende Tiere gesichtet wurden, nährt Hoffnungen, dass sie sich wieder ansiedeln könnten.

«Wir wissen noch nicht, ob Seepferdchen wieder im Wattenmeer heimisch sind oder ob Stürme sie von anderen Küsten herantreiben», sagt der Biologe Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer. Sollten die Tiere sich tatsächlich ansiedeln wollen, fänden sie heute wohl auch wieder geeignete Lebensräume vor: Seegraswiesen, die im vergangenen Jahrhundert eine Pilzepidemie dahingerafft hatte, haben sich erholt, und vor Sylt hat die Pazifische Auster mit Tang bewachsene Riffe entstehen lassen. Der Meeresbiologe Christian Buschmann hält es für möglich, dass die verbesserten Lebensbedingungen in Kombination mit der Erderwärmung die Rückkehr des Seepferdchens begünstigen.

Europäische Auster: Mahnmal gegen Überfischung

Europäische Auster

Man findet sie bis heute beim Muschelsammeln am Strand. Doch die kreisrunden Schalen der Europäischen Auster, die mit jeder Flut vor die Füsse der Urlauber geschwemmt werden, sind Boten aus der Vergangenheit. Lebende Exemplare gibt es nicht mehr an der deutschen Nordseeküste. Über Jahrhunderte gefischt, erst als Arme-Leute-Essen, später als Delikatesse, wurde die Muschel vor rund hundert Jahren hier ausgerottet. Restbestände haben sich an der französischen Atlantikküste und in Schottland erhalten. «Das Schicksal der Auster zeigt, dass selbst häufige Arten in kurzer Zeit durch übermässige Nutzung ausgerottet werden können», sagt Rainer Borcherding. Weitere Arten klingen heute exotisch, dabei waren sie vor hundert Jahren noch im Wattenmeer heimisch: Rossmuscheln, Sandkorallen und der über zwei Meter lange Glattrochen – der grösste Rochen nach den Mantas.

Das Verschwinden der Europäischen Auster hat bis heute Folgen für das Ökosystem. Mit ihr gingen auch die von den Tieren gebildeten Riffe verloren und damit Nahrungsgründe, Brutstätten und Schutzräume für viele andere Bewohner des Watts. Auch für die Wasserqualität hat das Fehlen der Muschelart Folgen. Eine Auster filtert 200 Liter Meerwasser am Tag – deutlich mehr als die kleineren Miesmuscheln.

Seit einigen Jahren gibt es Versuche, die Europäische Auster zurückzubringen, wenn auch nur in Schutzgebieten. Denn die einstige Charakterart der Nordsee muss hauptsächlich vor den Kuttern der bodenberührenden Fischerei bewahrt werden. Pilotprojekte gibt es daher in fischereifreien Schutzgebieten.

Pazifische Auster: Siegeszug einer Delikatesse

Whole single Pacific oyster on white background

Eine andere Auster ist gekommen, um zu bleiben. Eingeführt von Muschelzüchtern auf der Suche nach Ersatz für die ausgerottete europäische Verwandte, hat die Pazifische Auster in Rekordtempo einen Siegeszug im Wattenmeer hingelegt. Kein anderer Neubürger hat das Gesicht der Landschaft in kurzer Zeit so sehr verändert wie die Delikatesse aus Asien. Wo sich vor zwanzig Jahren im Watt Miesmuschelbänke erstreckten, finden sich heute grosse Austernriffe. Die Miesmuschel hat die Übernahme ihres Lebensraums durch die Konkurrentin überstanden. Sie lebt nun im Tiefgeschoss der neuen Austernriffe.

Kein Einzelfall: Ob Amerikanische Schwertmuschel, Australische Seepocke oder Schlickgras – in allen Wattlebensräumen gibt es heute Arten, die es dort vor hundert Jahren nicht gab. Die wenigsten wandern von allein ein. Über Muschelzucht, an Schiffsrümpfen oder im Wasser der Ballasttanks grosser Frachter gelangen neue Arten in die Nordsee – dank hoher Temperaturen überleben sie. «Die Zusammensetzung der Arten hat sich binnen hundert Jahren revolutionär verändert», konstatiert Christian Buschbaum, der am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) auf Sylt forscht. Viele Zugezogene seien besser als ihr Ruf, sagt der langjährige AWI-Stationsleiter Karsten Reise. Keine angestammte Art sei bisher durch Zuwanderer komplett verdrängt worden. Die Nordsee sieht er als ökologisch noch ungesättigtes Einwanderungsmeer. «Auf einem ökologischen Reinheitsgebot zu bestehen, macht keinen Sinn», sagt der Meeresbiologe.

Seeschwalbenküken: Auf (zu) kurzen Beinen

Zwergseeschwalbe Sternula albifrons, Weibchen mit zwei Küken am Sandstrand im späten Frühjahr *** Little Tern Sternula albifrons , Female with Two Chicks on sandy beach at late Spring Copyright: imageBROKER/alimdix/xArterra ibltsm09326319.jpg Bitte beachten Sie die gesetzlichen Bestimmungen des deutschen Urheberrechtes hinsichtlich der Namensnennung des Fotografen im direkten Umfeld der Veröffentlichung

Für hoch gewachsene Wesen wie Menschen, die durch das Watt waten, ist es kaum der Rede wert, dass seit einigen Jahren die Wellen höher auflaufen als je zuvor. Auch wenn die Sandburgen vom Vortag jetzt öfter in der Brandung zerbröseln und Strandkörbe manchmal in knöcheltiefen Pfützen stehen. Für Seevögel erweist sich das Klimaphänomen allerdings immer stärker als existenzielle Bedrohung. Vor allem Seeschwalben platzieren ihre Gelege bevorzugt nahe der Wasserkante auf Muschelbänken oder im Sand. Sie vertrauen darauf, dass die perfekte Tarnung der Eier dort den Nachwuchs vor Feinden schützt. Den steigenden Meeresspiegel und die häufigeren Hochwasser kennen sie nicht als Feinde. Die Kombination aus Meeresspiegelanstieg und starkem Westwind, der das Wasser an den Strand drückt, gab es schon früher. Die Häufigkeit solcher Wetterereignisse nimmt aber seit einigen Jahren ausgerechnet in der Brutzeit der Küstenvögel zu, wie Untersuchungen zeigen. Vogelschützer haben inzwischen einen eigenen Begriff für das Phänomen geprägt: Kükenflut.

An der Nordseeküste traf so eine Flut erst vor wenigen Wochen einen fast 200 Kilometer langen Streifen von der Elbmündung bis ins dänische Wattenmeer. Halligen wurden überflutet, Sandbänke und Inselstrände überspült. Viele Vogelkolonien standen unter Wasser. Auch Regenpfeifer sind stark betroffen. Hunderte Gelege wurden weggespült, und viele Küken ertranken schon kurz nach dem Schlüpfen.

Wattwurm: Voll im Klimastress

Wattwurm, Pierwurm, Sandpier, Sandpierwurm, Koederwurm, Sandwurm Arenicola marina, Wattwurmhaufen am Strand, Frankreich, Bretagne, Erquy European lug worm, blow lug, lugworm, sandworm Arenicola marina, lugworm piles on the beach, France, Brittany, Erquy BLWS711658 *** Lugworm, Pierworm, Sandpier, Sandpier worm, Koederwurm, Sandworm arenicola Marina , Watt worm pile on Beach, France, Brittany, Erquy European Lug worm, Blow lug, lugworm, Sandworm arenicola Marina , lugworm piles ON The beach, France, Brittany, Erquy BLWS711658 Copyright: xblickwinkel/D.xMaehrmannx

Was der Regenwurm für den gesunden Boden an Land ist, ist der Wattwurm für die Gezeitenzone im Wattenmeer. Seine unermüdliche Wühlarbeit auf der Suche nach Mikroorganismen zwischen den Sandkörnern transportiert Sauerstoff in tiefere Bodenschichten und ermöglicht es ungezählten Organismen, im Boden zu leben. Jeder Wattwurm verdaut und filtert etwa 25 Kilogramm Sand im Jahr. Zusammen gräbt das Billionenheer der Würmer das Watt auf diese Weise beständig um. «Ohne den Wattwurm sähe das Wattenmeer komplett anders aus», sagt AWI-Forscher Buschbaum. «Für die Artengemeinschaft ist es essenziell, dass er da ist.»

Umso alarmierender sind Forschungsergebnisse von US-Wissenschaftlern. Danach haben Wattwürmer ihr Temperaturlimit vielerorts erreicht. Experimente ergaben, dass sie bei Wassertemperaturen über 18 Grad Probleme bekommen – diese Marke wird schon heute in Hitzeperioden immer häufiger erreicht. Auch im deutschen Watt haben Forscher in manchen Sommern bereits Wattwurm-Massensterben beobachtet, vermutlich durch Parasiten verursacht. Ob höhere Temperaturen dabei eine Rolle spielen, ist unklar.

Wattwurm, Pierwurm, Sandpier, Sandpierwurm, Koederwurm, Sandwurm Arenicola marina, im Watt, Deutschland European lug worm, blow lug, lugworm Arenicola marina, in the wadden sea, Germany BLWS701723 *** Lugworm, Pierworm, Sandpier, Sandpier worm, Koederwurm, Sandworm arenicola Marina , at Watt, Germany European Lug worm, Blow lug, lugworm arenicola Marina , in The wadden sea, Germany BLWS701723 Copyright: xblickwinkel/W.xWillnerx

Modellrechnungen der Forschenden prognostizieren, dass der Wattwurm bis zur Jahrhundertwende komplett aus dem Mittelmeer und aus Teilen des Atlantiks, in dem es wattähnliche Bedingungen gibt, verschwindet. Im Ärmelkanal und im südlichen Wattenmeer drohen die Bestände in derselben Zeit drastisch zurückzugehen.

Löffler: Eine Erfolgsgeschichte

Löffler Löffelreiher Platalea leucorodia, Brutvogel, Sommervogel, auf Nahrungssuche, Wattenmeer, Prachtkleid, Flachwasserzone, Kiskunsag Nationalpark, Ungarn, Europa *** Löffler spoonbill Platalea leucorodia , breeding bird, summer bird, at foraging, wadden sea, splendor dress, shallow water zone, Kiskunsag national park, Hungary, Europe Copyright: imageBROKER/ThomasxHinsche iblthi09099367.jpg Bitte beachten Sie die gesetzlichen Bestimmungen des deutschen Urheberrechtes hinsichtlich der Namensnennung des Fotografen im direkten Umfeld der Veröffentlichung

Die Bestände der meisten Vogelarten, die im Wattenmeer brüten, werden kleiner. Einer aber trotzt dem Trend: Gross wie ein Reiher, fast reinweiss und mit einem namensgebenden langen Löffelschnabel hat sich der Löffler im Rekordtempo seinen Lebensraum zurückerobert. Das Sammeln seiner Eier, die Jagd auf die scheuen Vögel und der massenhafte Gebrauch von Pestiziden in der Landwirtschaft hatten die Tiere bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts fast überall im Wattenmeer ausgerottet. Nur in den Niederlanden überlebte eine kleine Zahl. Das Verbot des Insektenvernichtungsmittels DDT und das Jagdverbot für die Vögel in den 1970er-Jahren brachten die Wende.

Bis der Aufschwung auch das deutsche Wattenmeer erreichte, dauerte es bis in die Mitte der 1990er-Jahre. Seitdem wachsen die Bestände auch hierzulande kräftig. 2018 wurden erstmals mehr als tausend Brutpaare an der deutschen Küste gezählt. «Die Rückkehr der Löffler ist eine Erfolgsgeschichte des Vogelschutzes im Wattenmeer», sagt der Nationalparkleiter Peter Südbeck. «Ohne grossflächige Schutzgebiete höchster Qualität wäre sie nicht geschrieben worden.»

Die Vögel lieben Wärme, der Klimawandel nützt ihnen also zusätzlich. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt in Spanien. Langfristig dürfte die Erderwärmung aber auch dem neuen Shootingstar des Wattenmeers Probleme bereiten. Studien deuten darauf hin, dass die Vögel in Zukunft auf ihrem Zugweg von Nordeuropa bis nach Westafrika aufgrund häufigerer Dürren nicht mehr genügend Feuchtgebiete als Rastplätze finden könnten.

Zugvögel: Gäste auf dem Luxusrastplatz

Uferschnepfe, Ufer-Schnepfe Limosa limosa, fliegende Uferschnepfen in einem Schwarm mit Saebelschnaebler, Brandgans und Stelzenlaeufer, Spanien, Andalusien black-tailed godwit Limosa limosa, flying Black-tailed Godwits in a flock with Pied Avocet, Shellduck and Black-winged Stilt, Spain, Andalusia BLWS707668 *** Black-tailed godwit, Shore Snipe Limosa Limosa , Flying Uferschnepfen in a Swarm with Saebelschnaebler, Common Shelduck and Stilt walker, Spain, Andalusia Black Tailed Godwit Limosa Limosa , Flying Black Tailed Godwits in a Flock With Pied Avocet, Shellduck and Black winged Stilt, Spain, andalusia BLWS707668 Copyright: xblickwinkel/AGAMI/J.xvanxderxNeutx

Eine Wolke aus Flügeln, ein Meer aus Federn und ein Rauschen wie das eines herannahenden Sturms: Wenn die riesigen Schwärme arktischer Wildgänse sich über dem abendlich rot gefärbten Wattenmeer erheben, zeigt das Weltnaturgut sein wildes Gesicht. Über zehn Millionen Zugvögel machen hier zweimal im Jahr Rast auf ihrem langen Flug zwischen den Brutgebieten in der Arktis und den Winterquartieren in Afrika, um ihre Reserven für die Reise um den halben Globus aufzufüllen. «Das Wattenmeer versorgt einen grossen Teil des weltweiten Vogelzugs mit Treibstoff», sagt der Nationalparkchef Südbeck nicht ohne Stolz. «Ihren nächsten Rastplatz von ähnlicher Bedeutung finden die Vögel erst Tausende Kilometer südlich in Mauretanien oder Guinea-Bissau.»

Zugvögel steuern die Orte an, an denen die Natur ihnen die besten Bedingungen bietet. Im kurzen arktischen Sommer zur Jungenaufzucht den Norden, im tropischen Frühling den Süden. Doch mit dem Klimawandel steigen die Temperaturen in der Arktis besonders stark – und mit ihnen rückt der nahrungsreiche Frühling vor: Das fein abgestimmte Uhrwerk des Vogelzugs gerät aus dem Takt. Die Vögel des Watts reagieren unterschiedlich auf die Veränderung. Uferschnepfen verlassen ihre Winterquartiere früher, Pfuhlschnepfen verkürzen ihre Rastzeiten im Watt, und Weisswangengänse überfliegen einige Rastgebiete, um schneller im Brutgebiet anzukommen.

Wanderratte: Fangt den Dieb!

Wanderratte, Wander-Ratte (Rattus norvegicus), fressend am Ufer, Seitenansicht, Niederlande, Overijssel Brown rat, Common brown rat, Norway rat, Common rat (Rattus norvegicus), eating at the waterside, side view, Netherlands, Overijssel BLWS511055 Copyright: xblickwinkel/AGAMI/H.xBouwmeesterx

Das Erste, was Benjamin Gnep aus dem Watt-Jahr 2019 ins Gedächtnis kommt, ist die Stille. «Wenn man im Frühling auf die Hallig kommt, ist alles voller Leben – überall flitzen fiepende Vogelküken herum, und lärmende Altvögel schleppen Futter an.» Als der Ornithologe der Schutzstation Wattenmeer in jenem Jahr zur Kontrolle auf die Hallig Hooge kam, empfing ihn dagegen ein «stummer Frühling».

Der Grund zeigte sich auf den Videos der Kameras, die Naturschützer an Gelegen von Austernfischern, Seeschwalben und Säbelschnäblern aufgestellt hatten: Wanderratten hatten so gut wie alle Gelege zerstört und Jungvögel aufgefressen. Dabei war es nicht neu, dass die Tiere aus Ostasien es bis auf die Halligen geschafft hatten. Aber plötzlich waren die Nager ein existenzielles Problem für die Küstenvögel. Warum, ist bis heute unklar. Charleen Hillebrand, die auf der Hallig Hooge für ihre Masterarbeit am Rattenproblem forscht, sieht im Klimawandel einen Teil der Antwort. «Weil die Halligen im Winter immer seltener ganz überschwemmt werden, überleben viel mehr Ratten. In den immer milderen Wintern können sie sich dann auch noch öfter fortpflanzen.»

Das Rattenproblem auf den Halligen wiegt umso schwerer, weil die Inseln bislang der letzte sichere Hafen für viele Vogelarten waren. Auf dem Festland sind fast alle Kolonien wegen der grossen Zahl von Füchsen, Marderhunden und anderen Räubern erloschen. Um das Problem in den Griff zu bekommen, wurden auf Hooge 150 automatische Fallen aus Neuseeland installiert, die ganzjährig aktiv sind. Ein erster Erfolg zeichnet sich ab: In diesem Jahr wurde bisher nur ein Gelege Opfer der Ratten.

Robben: Die grössten Raubtiere sind zurück

Norderney. 17 OKT 2023. Seehund am Oststrand von Norderney. OSTFRIESLAND. Ostfriesische Inseln. *** Norderney 17 OCT 2023 Seal on the eastern beach of Norderney OSTFRIESLAND East Frisian Islands Copyright: JanisMEYER/Priller&MAUG JMY0R5501X

Mit Kulleraugen und Seelenruhe: Kegelrobben und Seehunde sind die Sympathieträger unter den Tieren des Wattenmeers. Das war nicht immer so. Die Verfolgung durch den Menschen brachte beide Robbenarten zeitweise an den Rand des Aussterbens. Die Kegelrobbe war sogar schon ganz aus dem Wattenmeer verschwunden. Mit 2,50 Meter Länge und einem Gewicht von bis zu 300 Kilogramm sind die Bullen der Kegelrobbe zwar gefürchtete Jäger, vor denen auch Seehunde und sogar Schweinswale nicht sicher sind. Gegen den Menschen half das nicht. Ihnen wurde zum Verhängnis, dass sie zum Gebären ihrer Jungen an die Strände kommen müssen – anders als Seehunde –, wo sie eine besonders leichte Beute sind.

In den 1970er-Jahren wurde die Robbenjagd verboten. Beide Arten starteten ein spektakuläres Comeback, das auch mehrere grosse Seehundsterben durch Virusinfektionen nicht stoppen konnten. Heute leben wieder rund 23’000 Seehunde und halb so viele Kegelrobben im Wattenmeer – und es scheint, als bringe die Natur wieder ins Gleichgewicht, was der Mensch durcheinandergewirbelt hat. Während die Zahl der Seehunde seit einigen Jahren leicht zurückgeht, wächst die Population der Kegelrobbe weiter. «Wir sind Zeugen einer ökologischen Trendwende», sagt der Biologe Rainer Borcherding. «Europas grösstes Raubtier erobert sich seinen Spitzenplatz im Ökosystem zurück.»