Interview mit Starökonomin«Es ist fair, von Migranten einen Beitrag zu verlangen»
Mit 36 Jahren wurde Minouche Shafik die erste und jüngste Vizepräsidentin der Weltbank. Die ehemalige Präsidentin der Columbia University hat ein Rezept gegen Polarisierung und Fremdenhass.
- Minouche Shafik setzt sich für einen neuen Gesellschaftsvertrag ein.
- Sie betont die Rolle der sozialen Medien bei der gesellschaftlichen Polarisierung.
- Bürgerversammlungen könnten als Instrument zur Stärkung der Demokratie dienen.
- Shafik kritisiert, dass erfolgreiche Integration oft an unzureichenden sozialen Investitionen scheitert.
Minouche Shafik hat einen bemerkenswerten Werdegang hinter sich. Die in Ägypten geborene Wirtschaftswissenschaftlerin hatte führende Funktionen bei der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der London School of Economics. Weltweit in die Schlagzeilen geriet Shafik im letzten August, als sie nach den Studentenprotesten an der New Yorker Columbia-Universität ihren Posten als Präsidentin aufgab.
Vor fünf Jahren wurde die amerikanisch-britische Doppelbürgerin von Queen Elizabeth zur Baronin geadelt und als Parteilose ins britische Oberhaus («House of Lords») berufen. Zudem ist die 62-Jährige heute für das britische Aussenministerium tätig. In ihrem 2021 erschienenen Buch «Was wir einander schulden» spricht sie sich für einen neuen Gesellschaftsvertrag im 21. Jahrhundert aus.
Am Donnerstag trat Shafik als Gastrednerin am «Tages-Anzeiger»-Meeting in Zürich auf. Hier spricht sie über Ursachen und Hintergründe der weltweiten Polarisierung, ihre Vorstellung eines «neuen Gesellschaftsvertrags» und über ihre Erfahrungen als Frau in der männerdominierten Welt internationaler Institutionen. Das Interview im englischen Original finden Sie hier.
Frau Shafik, Sie sind krisenerprobt: Sie waren während der Eurokrise, des Arabischen Frühlings oder des Brexit in internationalen Schlüsselpositionen tätig. Die Krise an der Columbia University konnten Sie nicht lösen – Sie sind zurückgetreten. Was war dort anders?
Als ich während der Eurokrise beim Internationalen Währungsfonds arbeitete, konnten wir tatsächlich zur Lösung des Problems beitragen, indem wir die Politik gestalteten und Finanzmittel bereitstellten. Auch bei der Bank of England und der Weltbank hatten wir Instrumente, um die Krisen, mit denen wir konfrontiert waren, zu bewältigen. Leider kann eine Universität keinen direkten Einfluss auf den politischen Konflikt im Nahen Osten nehmen. Die Instrumente, die uns zur Verfügung standen, Bildung, Forschung und öffentliches Engagement, wurden von politischer Polarisierung, Fehlinformationen und externen Akteuren, die die Universitäten für ihre Zwecke nutzen, überlagert.
Warum waren die Auseinandersetzungen an den Universitäten nach dem Ausbruch des Gazakriegs so heftig?
Zum Teil liegt das daran, dass die Menschen die schrecklichen Ereignisse in der Region sehr stark spüren. Ich denke, es hängt auch stark mit Identitätspolitik zusammen – damit, wie wichtig die Zugehörigkeit zu einer Gruppe geworden ist. Sobald man sich stark mit einer Gruppe identifiziert, wird es schwer, andere Perspektiven zu sehen. Universitäten sollten eigentlich Orte sein, an denen man forscht, lehrt und verschiedene Perspektiven kennen lernt, doch leider hat die Polarisierung auch dort Einzug gehalten.
Welche Hintergründe hat diese Polarisierung aus Ihrer Sicht?
Der Aufstieg der sozialen Medien hat die Vermittlung durch Parteien, traditionelle Medien und andere soziale Institutionen verdrängt. Menschen, die ein Interesse an der Spaltung der Gesellschaft haben, nutzen diese mächtigen Plattformen, um direkt an die Öffentlichkeit zu gelangen. Das verschafft ihnen erhebliche politische Macht. Zumal die sozialen Medien immer mehr auf Moderation und Faktenchecks verzichten – was man bei Facebook und Instagram gerade sieht.
Umgekehrt stecken die traditionellen Medien in einer fundamentalen Krise.
Ich bewundere Medien, die immer noch versuchen, redaktionelle Standards einzuhalten und ausgewogen und faktenbasiert zu sein. Die Tatsache, dass viele Informationen kostenlos verfügbar sind, macht ihr Geschäftsmodell aber wirklich problematisch.
Was wäre die Alternative?
Manche argumentieren, dass wir die Medien mehr als öffentliches Gut betrachten sollten, so wie Museen oder andere Einrichtungen, die einen Dienst an der Gemeinschaft leisten und nicht gewinnorientiert sind. Aber auch dieses Modell würde natürlich neue Fragen aufwerfen. Wir sind in einer Übergangsphase, in der noch nicht klar ist, wie die künftige Medienlandschaft aussehen wird. Es geht bei der Polarisierung aber nicht allein um die Rolle der Medien. In dieser aufgeheizten Stimmung hilft ein ausgeprägter sozialer Dialog, bei dem Menschen an demokratischen Prozessen teilnehmen können.
Woran denken Sie konkret?
Die Schweiz ist ein wirklich gutes Beispiel dafür: Hier dürfen und müssen die Menschen ständig über alle möglichen Fragen abstimmen. Dadurch wird die Öffentlichkeit in Fragen einbezogen, die für alle von Bedeutung sind.
Sie plädieren für «Bürgerversammlungen» als Möglichkeit, die Menschen besser in politische Entscheide einzubinden. Wie muss man sich das vorstellen?
Als Irland 2018 eine Entscheidung über die Legalisierung von Abtreibungen treffen musste, wurde eine Gruppe von Bürgern eingeladen. 100 Bürgerinnen und Bürger diskutierten ein Jahr lang öffentlich über das Thema und hörten Zeugen und Expertinnen an, bevor Irland ein Referendum abhielt und sich schliesslich für die Legalisierung aussprach. Die öffentliche Debatte stützte sich auf Daten und Expertenstimmen und verlief friedlich. Ich denke, dass solche Modelle des öffentlichen Engagements in Zukunft immer wichtiger werden.
Raten Sie auch der Schweiz, solche Bürgerversammlungen abzuhalten?
Ich will und kann der Schweiz keine Ratschläge erteilen! Aber ich würde sagen, dass die Kombination eines solchen Prozesses vor einer Abstimmung sehr wirkungsvoll ist, wenn die Menschen über wirklich wichtige Themen abstimmen. Ein Verfahren, bei dem echte Fakten verlässlich auf den Tisch gelegt werden, ist zentral.
Mit solchen Fragen des Gemeinwesens befassen Sie sich auch in Ihrem Buch. Sie nennen es ein «antipopulistisches Manifest». Ist das Ihre Antwort auf die Trump-Bewegung?
Ich schrieb das Buch 2016, in einem aussergewöhnlichen Jahr: Trump wurde in den USA gewählt, in Grossbritannien wurde der Brexit beschlossen. Ich habe diese massive Gegenreaktion der Bevölkerung auf die bisherige Politik zunächst nicht richtig verstanden, denn die Menschen hatten aufgrund politischer Massnahmen objektiv betrachtet ein besseres Leben als früher. Als Wirtschaftswissenschaftlerin beeindruckt mich, was in den 50 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde – die Armut sank wie nie zuvor, der Lebensstandard stieg rapide.
Dass der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch ist, ist aber eine Folge demokratischer Entscheide. In vielen Ländern wollen die Menschen das so.
Noch glauben viele Menschen den Versprechungen der Populisten. Aber ich denke, dass deren Politik scheitern wird: Wenn sie Handelsschranken errichten oder die Einwanderung komplett blockieren oder wenn sie Investitionen in den sozialen Zusammenhalt kürzen, wird das die Situation vieler Menschen verschlechtern. Ich fürchte, es muss erst schlimmer werden, bevor es besser wird. Erst dann werden die Menschen erkennen, dass Abschottung und Protektionismus keine guten Rezepte sind.
Die Angst vor sozialem Abstieg durch Einwanderung ist aber real. Was kann eine nicht populistische Politik dem entgegenhalten?
Die Einwanderungsdebatte dreht sich oft um das Thema, dass Migranten Wohnungen, Schulen oder Sozialleistungen nutzen, aber dazu nicht genug beigetragen haben. Dahinter steht die Vorstellung, dass sie das Recht auf Teilhabe am Gesellschaftsvertrag nicht verdient haben – im Gegensatz zu denen, deren Familien über Generationen investiert haben. Deshalb müssen wir mehr über Einwanderung, Integration und den Weg zur Staatsbürgerschaft nachdenken.
Wie sollten wir denn über Migration und deren Folgen reden?
Es ist fair, von den Menschen einen Beitrag zu verlangen, wenn sie in ein anderes Land ziehen. Es ist fair, zu sagen, dass Einwanderer einen Job haben, Steuern bezahlen und ihre Kinder vorbereiten müssen, damit sie einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Der Gesellschaftsvertrag bedeutet, dass wir in jeden investieren und auch erwarten sollten, dass alle Mitglieder der Gesellschaft einen Beitrag leisten. Die Bedingungen dieses Sozialvertrags – was wir einander schulden – werden unterschiedlich sein, und Länder wie die Schweiz haben mit diesem Ansatz einige Erfolge erzielt.
Inwiefern?
Sie haben sogar einen Ausdruck dafür, den ich nur auf Deutsch kenne: Willensnation. Die Menschen bilden eine Nation, nicht unbedingt, weil sie durch ihre Geburt oder ihre Ethnie dazugehören, sondern weil sie zusammen in einer Gesellschaft leben wollen und sich solidarisch zeigen.
Aber ist es nicht naiv, auf Solidarität zu setzen, wenn die Globalisierung die Angst vor dem sozialen Abstieg in einer Gesellschaft massiv verschärft?
Umfragen zeigen regelmässig, dass viele Eltern in Europa und den USA glauben, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen selbst. Das ist der Kern des Problems: Statt darüber zu reden, wie man den Kuchen vergrössert, diskutiert man nur, wie er verteilt wird.
Wie macht man den Kuchen grösser?
Wir müssen mehr investieren, um den Kuchen zu vergrössern – mit hohen Renditen durch kluge Investitionen. Ausserdem sollten wir mehr über die Vorteile sprechen, wenn alle zum Kuchen beitragen.
Zum Beispiel?
Wir müssen uns mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Menschen in einer alternden Gesellschaft länger arbeiten müssen. In vielen Ländern können die Menschen heute davon ausgehen, dass sie ein Drittel ihres Erwachsenenlebens nicht arbeiten. Wir müssen sie auffordern, mehr zur Gesellschaft beizutragen, indem sie länger arbeiten. Wir müssen auch massiv in junge Menschen und in Umschulungsmöglichkeiten investieren.
Kritiker Ihres Buchs sagen, Sie würden die Rolle des Staats zu sehr betonen und die individuellen Freiheiten nicht hoch gewichten. Was antworten Sie?
Wie viel Staat und wie viele individuelle Freiheiten richtig und notwendig sind, unterscheidet sich in den verschiedenen Gesellschaften. Ich bin da sehr offen. Singapur ist ein gutes Beispiel: Dort leben 80 Prozent der Bevölkerung in Sozialwohnungen, die vom Staat bereitgestellt werden. Gleichzeitig ist die Wirtschaftspolitik liberal. Singapur verfolgt einen sehr marktwirtschaftlichen Ansatz in der Wirtschaft, aber einen sehr interventionistischen Ansatz in der Sozialpolitik. Für dieses Land funktioniert das gut.
In Ihrem Buch plädieren Sie nicht für eine Umverteilung, sondern für eine bessere «Vorverteilung». Was meinen Sie damit?
Viele Linke konzentrieren sich traditionell auf die Umverteilung, den «Robin-Hood-Ansatz», bei dem man von den Reichen nimmt und den Armen gibt. Aber in vielen Ländern gibt es dafür wenig politische Unterstützung. Stattdessen sollten wir schon früh im Leben stark in alle Menschen investieren, um ihnen Chancen zu geben, damit sie später nicht von Umverteilung abhängig werden. Man könnte beispielsweise mehr in Kinder investieren, die in sehr arme Familien hineingeboren werden, weil sie einen grösseren Nachholbedarf haben.
Kann «Vorverteilung» die Umverteilung wirklich ersetzen?
Eine meiner Lieblingsstudien in diesem Zusammenhang heisst «Lost Einsteins». Sie zeigt, dass gleiche Begabungen oft ungenutzt bleiben, wenn Kinder aus armen Familien oder wirtschaftlich schwachen Regionen kommen. Herkunft und Umfeld prägen Chancen entscheidend. Der Staat sollte daher vor allem in die frühkindliche Bildung investieren – von null bis drei Jahre –, um Kindern aus benachteiligten Gemeinden bessere Startbedingungen zu bieten.
Solche Ideen leiten Sie auch aus Ihrer eigenen Biografie ab. Sie sind in Ägypten geboren und in den USA aufgewachsen. Später waren Sie eine der einflussreichsten Frauen in internationalen Institutionen. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem männerdominierten Umfeld gemacht?
Zu Beginn meiner Karriere war es sehr schwierig, weil ich oft die einzige Frau im Raum war. Ich hatte sehr wenige Vorbilder, aber einige Mentoren. Das waren in der Regel Männer, weil es schlicht keine Frauen gab. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar. Aber jetzt ändert sich das: Die nächste Generation hält es für selbstverständlich, dass die Geschlechter gleichbehandelt werden.
Was raten Sie jungen Frauen dieser nächsten Generation?
Oft werde ich gefragt, wie ich Familie und Karriere unter einen Hut bringe. Ich scherze dann, dass es eine «heilige Dreifaltigkeit» braucht: einen guten Partner, Zugang zu guter Kinderbetreuung und einen grossartigen Chef. Mit diesen drei Dingen gelingt es deutlich besser.
Sie haben die Schweiz kritisiert, wo die Chancen zwischen Männern und Frauen nicht gleich verteilt seien.
Erschwingliche Kinderbetreuung von hoher Qualität ist in der Schweiz nicht weitverbreitet. So sind viele Frauen in der Schweiz gezwungen, sich aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen. Dabei gäbe es viele talentierte Schweizerinnen, die sehr gut ausgebildet sind. Wenn die Gesellschaft diese Talente nicht nutzen kann, haben alle das Nachsehen.
Aber geht es hier nicht in erster Linie um Werte und Kultur in einer Gesellschaft und nicht um Chancen?
In vielen Ländern spiegelt sich darin eine traditionelle Sichtweise der Familie wider. Es herrschte die Auffassung, dass die Mutter die beste Person sei, die sich um ein Kind kümmern könne. Natürlich spielen die Mütter eine enorm wichtige Rolle – aber auch die Väter. In modernen Gesellschaften sind Frauen heute im Durchschnitt gebildeter als Männer. In den meisten Ländern der Welt besuchen heute mehr Frauen als Männer eine Universität. Deshalb brauchen wir ein besseres Gleichgewicht.
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