«Tages-Anzeiger»-MeetingEin neuer Gesellschaftsvertrag für eine unsichere Welt
Alte Ordnungen zerbrechen, die Ungleichheit wächst. Die Ökonomin Minouche Shafik skizzierte am traditionellen Meeting des «Tages-Anzeigers» Lösungen für eine gerechtere Zukunft.
- Pietro Supino begrüsste 300 Gäste beim traditionellen «Tages-Anzeiger»-Meeting in Zürich.
- Minouche Shafik sprach über die Notwendigkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags.
- Die Diskussion drehte sich um Ungleichheit und ihre Rolle in der Welt.
Am Donnerstag lud der «Tages-Anzeiger» zum traditionellen Meeting im Schiffbau in Zürich. Rund 300 Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien folgten der Einladung von Pietro Supino, Verleger des «Tages-Anzeigers» und Präsident der TX Group.
In seiner Begrüssung stellte Supino die Gastrednerin, Minouche Shafik, ausführlich vor und betonte ihren aussergewöhnlichen Lebensweg. Shafik musste als Kind mit ihrer Familie aus Ägypten emigrieren, nachdem sie dort unter der autokratischen Herrschaft Gamal Abdel Nassers enteignet worden war. Die Familie fand zunächst in Genf Zuflucht, zog später in die USA und lebte dort in verschiedenen Bundesstaaten, bevor sie nach Alexandria zurückkehrte.
Shafik begann ihre akademische Laufbahn in den Wirtschaftswissenschaften, studierte zunächst in den USA und schloss ihre Ausbildung in England ab. Sie trat in den Dienst der britischen Regierung, war später die jüngste Vizedirektorin in der Geschichte der Weltbank und wirkte als geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds sowie als stellvertretende Gouverneurin der Bank of England. Zuletzt war sie bis im vergangenen Sommer Präsidentin der Columbia University in New York und zuvor Präsidentin der London School of Economics.
«Das Chaos triumphiert»
Mit diesen Worten leitete Supino zu Shafiks Vortrag über. Darin analysierte sie die globale Unsicherheit, die durch den Zerfall alter Ordnungen und gescheiterte Gesellschaftsverträge verstärkt werde. Shafik argumentierte, dass ein neuer Gesellschaftsvertrag auf den drei Säulen Wohlstand, Sicherheit und Identität basieren müsse, um die Herausforderungen der heutigen Welt zu bewältigen. Sie betonte: «Das alte Weltordnungssystem stirbt, und wir befinden uns in einer Zeit der Monster. Wenn wir nicht handeln, riskieren wir, dass das Chaos triumphiert.»
Dabei legte sie dar, wie veraltete soziale Strukturen und Ungleichheiten die Basis für populistische und nationalistische Strömungen bilden. Sie unterstrich, dass ein neuer Gesellschaftsvertrag nur möglich sei, wenn sowohl nationale als auch internationale Ungerechtigkeiten angegangen werden: «Wie Menschen sich zu Hause fühlen – sicher, geschätzt und mit Chancen ausgestattet –, beeinflusst direkt, wie offen und kooperativ sie in einer globalisierten Welt agieren.»
Boden besteuern statt Vermögen
Im Anschluss an die Rede moderierte «Tages-Anzeiger»-Chefredaktorin Raphaela Birrer eine angeregte Diskussion mit dem Publikum. Dabei stellte die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch die Frage, welche Rolle die wachsende Ungleichheit zwischen extremem Reichtum und Armut in einer vernetzten Welt für die Möglichkeit spiele, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schaffen.
Shafik antwortete, dass die Ungleichheit weltweit sehr unterschiedlich sei, sie aber in vielen Ländern durch eine kleine Elite von extrem Wohlhabenden geprägt werde. «Das Problem ist nicht so sehr das Einkommen, sondern das Vermögen der Superreichen», erklärte sie.
Sie wies darauf hin, dass Vermögenssteuern, wie sie in einigen wenigen Ländern, darunter die Schweiz, existierten, oft ineffizient seien: «Die Superreichen haben sehr gute Buchhalter und Anwälte, die Wege finden, diese Steuern zu umgehen.» Stattdessen schlug sie Bodensteuern als praktikablere Alternative vor: «Sie sind schwieriger zu umgehen, da Grundstücke nicht versteckt oder verlagert werden können.»
Shafik betonte zudem, dass die Politik sicherstellen müsse, dass sie im Interesse der gesamten Bevölkerung handle. Dies sei essenziell, um die Spaltung zwischen extrem Reichen und der übrigen Gesellschaft zu überwinden und das Vertrauen in einen erneuerten Gesellschaftsvertrag wiederherzustellen.
Minouche Shafik hielt ihren Vortrag am «Tages-Anzeiger»-Meeting auf Englisch. Dank einer KI-gestützten Übersetzung können die Inhalte auch auf Deutsch nachvollzogen werden. Die Übersetzung und Videoproduktion wurden von Matthias Schmidlin realisiert.
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