Angriff auf TraditionenEine Mädchenschule ist diskriminierend? So gibt sich die Schweiz auf
Das Bundesgericht findet eine beliebte, 200-jährige Schule unzeitgemäss. Einmal mehr verschwindet aus falscher Rücksicht eine Tradition.

Eine 200 Jahre alte katholische Mädchenschule, die für Schülerinnen aller Konfessionen offen steht, sei diskriminierend, entschied das Bundesgericht letzte Woche. Obschon der Besuch freiwillig ist. Und die Schule viel Zuspruch erhält. Doch das alles spielt für das Gericht keine Rolle. Die erfolgreiche Schule darf in ihrer heutigen Form nicht weiter bestehen.
Das auch bei Fachleuten umstrittene Urteil widerspiegelt den Zeitgeist der letzten Jahrzehnte: Tradition spielt nur noch eine vernachlässigbare Rolle, sie muss übergeordneten Werten Platz machen.
Dass die Auslöschung lokaler Bräuche in einer zunehmend globalisierten Welt Fortschritt bedeutet, ist allerdings ein Irrtum. Natürlich käme es heute niemandem mehr in den Sinn, in einem säkularen Land eine katholische Mädchenschule zu gründen, die durch die Allgemeinheit finanziert wird. Das heisst aber nicht, dass man deswegen eine seit langem bestehende, gut funktionierende Schule zerstören muss. Das ist ähnlich wie bei den Kirchtürmen: Heute wäre es nicht mehr möglich, in einem Wohnviertel einen Turm mit lautem Glockengeläut hinzustellen. Aber ein bestehender kann selbstverständlich bleiben.
Ausser halt dort, wo man auch diese Tradition leichtfertig aufgibt, weil sich einige an dem jahrhundertealten Kirchengeläut stören.
Blackfacing an der Fasnacht?
Oft braucht es für die Aufgabe einer Tradition nicht einmal einen Kläger: Man passt sich freiwillig an, weil man glaubt, man müsse Rücksicht nehmen, zum Beispiel auf Zugezogene aus anderen Kulturkreisen. Werden diese dann gefragt, stellt sich in vielen Fällen heraus, dass sie selber gar kein Problem damit haben. Im Gegenteil: Die meisten haben Verständnis dafür, dass es in einem traditionell christlichen Land an manchen Orten Bezüge zum Christentum gibt. Oder dass eine aus den USA importierte Debatte wie das Blackfacing – dass das schwarze Schminken des Gesichts automatisch rassistisch ist – nicht eins zu eins auf unsere Kinderfasnacht übertragen werden kann.
Statt seine Eigenheiten selbstbewusst zu verteidigen, schämt man sich in der Schweiz oft dafür, hält sie für Relikte, die höchstens noch auf dem Ballenberg ihre Berechtigung haben.
Es ist eine Art Selbstaufgabe, die schon in der Schule beginnt. Der Geschichtsunterricht verliert mit jedem neuen Lehrplan an Gewicht, erst recht die Schweizer Geschichte. Mit gravierenden Folgen. Ein langjähriger Sekundarlehrer erzählte kürzlich gegenüber dieser Redaktion, wie die Schüler reagierten, wenn er sie auf 1291 anspreche: «Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört.» Drei Viertel verliessen die Sekundarschule, ohne je etwas von der Gründung des modernen Bundesstaats 1848 erfahren zu haben.
Schweizer Geschichte gilt als nicht mehr zeitgemäss. Dabei wäre sie sehr inklusiv: Mit dem Kampf der Eidgenossen gegen die Tyrannei kann sich jeder freiheitsliebende Mensch identifizieren, egal welcher Hautfarbe oder Herkunft. Kein Wunder, machte die Heldengeschichte des Wilhelm Tell einen Siegeszug rund um den Globus. Dasselbe gilt für das spätere Ringen um eine moderne, demokratische Verfassung. Gerade in der Schweiz, dem Land mit einer der höchsten Einwanderungsraten der Welt, könnten Geschichte und Mythen heute wieder eine wichtige Klammerfunktion einnehmen.
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