Kein Ausbau bis 2050 Verschläft die Schweiz gerade den Anschluss an Europas Highspeed-Zugnetz?
Mit über 200 km/h von Stadt zu Stadt: Die EU-Länder haben grosse Pläne für Expresszüge. Die SBB wollen aufspringen – doch die Schweizer Politik lehnt das ab. Das ist falsch, sagen Experten.
Europa baut am Netzwerk für Hochgeschwindigkeitszüge – und die Schweiz ist mittendrin, aber nicht dabei. So muss man die aktuellen Pläne der Politiker und Politikerinnen in Brüssel und Bern deuten. Bis 2030 wollen die europäischen Staaten das Volumen im Hochgeschwindigkeitsverkehr gegenüber 2015 verdoppeln, bis 2050 gar verdreifachen. Von Hochgeschwindigkeit spricht man bei einem Tempo von über 200 Kilometern pro Stunde.
Im Bundeshaus hingegen hat nach dem Ständerat am Montag auch der Nationalrat ohne lauten Protest das Vorhaben zur Kenntnis genommen, in den nächsten Jahrzehnten «keinen substanziellen Ausbau des Fernverkehrs oder internationalen Personenverkehrs» vorzunehmen. Die Planspiele stammen vom Bundesrat und laufen unter dem Titel «Perspektive Bahn 2050».
Der Bund gibt in den nächsten Jahren über seinen Infrastrukturfonds Dutzende Milliarden Franken für Ausbauten am Bahnnetz aus. Der Grossteil davon fliesst heute und in Zukunft in Projekte, die vor allem regionale Relevanz haben. Damit bleiben die Strecken durch den Gotthard- und den Lötschberg-Basistunnel und die Neubaustrecke Olten–Bern auf absehbare Zeit die einzigen Hochgeschwindigkeitsabschnitte der Schweiz.
Seit 2010 stagniert der Bahnanteil
Eine Reihe von wichtigen Akteuren hält das für eine verfehlte Strategie. Der wichtigste davon sind die SBB. Als der Bundesrat vor anderthalb Jahren die Vernehmlassung für seine Pläne durchführte, forderten sie für den öffentlichen Verkehr der Schweiz die «beste Einbindung ins europäische Schienennetz». Es sei aus ihrer Sicht «unerlässlich, für das Bahnsystem Schweiz ergänzend ein in europäischen Dimensionen gedachtes Europa-Express-Netz zu konzipieren.»
Der Bundesrat kam dem Wunsch nicht nach. Er begründet das mit dem Verweis auf Studien, die er hat erstellen lassen. Diese hätten gezeigt, dass der sogenannte Modalsplit, also der Anteil der Bahn am gesamten Verkehr, mit Ausbauten auf der Kurz- und der Mittelstrecke am effizientesten gesteigert werden könne. Die Hoffnung dahinter ist, dass der Verkehrssektor so insgesamt weniger Treibhausgase ausstösst.
Bis 2050 will der Bundesrat den Modalsplit um 3 Prozentpunkte auf 24 Prozent steigern. Nach dem letzten grossen gesamtschweizerischen Ausbauprojekt Bahn 2000 war er innert kurzer Zeit stark angestiegen, seit 2010 stagniert er allerdings.
«Die empfohlene Stossrichtung legt den Fokus der längerfristigen Entwicklung des Bahnangebots auf die kurzen und mittleren Distanzen bis rund 50 Kilometer», schreibt der Bundesrat in seiner Botschaft zur «Perspektive Bahn 2050». Unter anderem sollten Vorortsbahnhöfe vermehrt zu Verkehrsdrehscheiben und verstärkt von Interregio- und Regionalzügen bedient werden, «was neue Umsteigeverbindungen ermöglicht und gleichzeitig die Zentrumsbahnhöfe entlastet».
Arbeitet der Bund mit den richtigen Annahmen?
Guido Schoch, ehemaliger Direktor der Verkehrsbetriebe Zürich und der Südostbahn, unterstellt dem zuständigen Bundesamt für Verkehr (BAV) dabei einen Denkfehler: «Das BAV schaut auf die Anzahl gefahrener Strecken und nicht auf die Personenkilometer – als ob es für das Klima egal wäre, ob jemand im Auto 300 Meter zum Supermarkt fährt oder von Zürich ins Wallis.» Hätte der Bund dagegen bei seinen Rechnungen die zurückgelegte Strecke berücksichtigt, würde er den Fokus nun stärker auf den Fernverkehr legen.
Schoch wird noch grundsätzlicher: Seit vor rund 20 Jahren die Planung für Infrastrukturausbauten von den SBB ans BAV übergegangen sei, sei die übergeordnete Perspektive verloren gegangen. «Jetzt wird gebaut, ohne dass sich vorher jemand fragt, wie ein neues Projekt in den Gesamtfahrplan passt.» Die Kantone dürften jeweils ihre Bedürfnisse anmelden – «ob das Puzzle dann zusammenpasst, zeigt sich erst nach Inbetriebnahme». Schoch nennt als Beispiele die geplanten Grossprojekte Tiefbahnhof Luzern, das «Herzstück» Basel oder den Tunnel zwischen Zürich-Altstetten und Aarau.
Die SBB wollen sich nicht zu den aktuellen Beschlüssen des Parlaments äussern. Ihre Vernehmlassungsantwort vor anderthalb Jahren zielte aber in eine ähnliche Richtung wie Schochs Kritik. Die Bahnentwicklung solle «ergänzend zur vorgeschlagenen Zielsetzung konsequent aus Kunden- und Nachfragesicht hergeleitet» werden, schrieben sie damals. Ausgedeutscht bedeutet auch das, dass es jeweils zuerst ein Gesamtkonzept brauche.
Während es sich bei dieser Diskussion um eine Vision für die ferne Zukunft handelt, hat das Parlament am Montag zusätzlich konkrete Projekte beschlossen: So soll unter anderem zwischen Morges VD und dem benachbarten Perroy ein neun Kilometer langer Tunnel gebaut werden, um die überlastete oberirdische Strecke entlang des Genfersees zu entlasten.
Auch hat das Parlament das Geld für die Weiterführung des Zimmerberg-Basistunnels bis Baar ZG gesprochen, inklusive einer Abzweigung Richtung Wädenswil am Zürichsee. Auch der Vollausbau der zweiten Röhre des Lötschberg-Basistunnels ist nun fix projektiert. Die verschiedenen mit grossen Mehrheiten beschlossenen Ausbauten kosten knapp 3 Milliarden Franken. Das sind 350 Millionen mehr als vom Bundesrat vorgeschlagen. Die Schweiz bleibt also ein Bahnland, Hochgeschwindigkeit hin oder her.
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