Terrorprozess in ParisVater stellte Lüge über Lehrer ins Internet – ist er ein Terrorhelfer?
Der Lehrer Samuel Paty wurde 2020 von einem Islamisten getötet. Vor dem Pariser Gericht stehen jetzt auch zwei Männer, die in den sozialen Medien falsche Gerüchte verbreitet haben.
Kann Hetze im Netz schon Beihilfe zum Terrorismus sein? Und lässt sich das beweisen in einem Gericht? In Paris hat der Prozess gegen acht Personen begonnen, die für die Ermittler dazu beigetragen haben, dass der französische Geschichts- und Geografielehrer Samuel Paty getötet wurde. Von einem jungen Islamisten, einem russischen Flüchtling aus Tschetschenien. Am 16. Oktober 2020 in Conflans-Sainte-Honorine bei Paris. Samuel Paty war 47.
Der Fall erschütterte das Land damals, er tut es noch immer. Der Name des Lehrers brannte sich ein in das kollektive Gedächtnis der Franzosen.
Von den acht Angeklagten des Prozesses stehen zwei im Fokus: Brahim Chnina, 52 Jahre alt, Vater einer Schülerin von Samuel Paty; und Abdelhakim Sefrioui, 65 Jahre, eine charismatische Figur der radikalislamistischen Szene. Die Pariser Staatsanwaltschaft nennt sie ein «infernalisches Duo». Seit jenem Herbst 2020 sitzen sie in Haft, in Erwartung des Prozesses. Sollte das Gericht zur Erkenntnis gelangen, dass sie mit ihrer Kampagne gegen Paty in den sozialen Medien den Terroristen zu dessen Tat veranlasst haben, drohen ihnen im Höchstfall Haftstrafen von dreissig Jahren – für die «Bildung einer kriminellen terroristischen Vereinigung».
Am Anfang stand Patys Unterricht über «Charlie Hebdo»
Es ist die Geschichte einer tödlichen Spirale, sie dauerte zwei Wochen. Am 6. Oktober 2020 erteilt Samuel Paty einer 4. Klasse des Collège du Bois-d’Aulne einen Unterricht, der zum Programm gehört und den er schon oft erteilt hat: «Dilemma: ‹Charlie Hebdo›, sein oder nicht sein.»
Der Kurs verhandelt die Frage, ob Karikaturen wie die des Propheten Mohammed der Satirezeitung «Charlie Hebdo» zu weit gingen, weil sie die Gefühle der Muslime verletzten, oder ob die Meinungsfreiheit alles zulasse. Nach dem islamistischen Attentat auf die Redaktion im Januar 2015 gab es ja die solidarische Losung, mit Hashtag: «#JeSuisCharlie». Ich bin Charlie.
Kann man auch nicht Charlie sein? Im Kurs soll darüber diskutiert werden. Bevor er eine dieser Zeichnungen zeigt, bietet Paty jenen muslimischen Schülern, die das wünschen, die Möglichkeit an, den Blick ein paar Sekunden abzuwenden oder das Schulzimmer zu verlassen für einen kurzen Moment. Es gibt Schüler, die das Zimmer verlassen.
Dann bekommt der Vorgang in der Erzählung einer Schülerin plötzlich eine neue Dynamik. Das Mädchen, 13 Jahre alt, erzählt zu Hause, Paty habe sie und alle muslimischen Schüler aus dem Klassenzimmer ausgeschlossen. Das ist, wie sich später erweisen soll, eine doppelte Lüge: Das Mädchen war nämlich gar nicht anwesend in dem Unterricht.
Dann schaltet sich ein Islamist ein
Der Vater des Mädchens, Brahim Chnina, ist empört. Auf Facebook postet er die Version seiner Tochter, bezeichnet den Lehrer als «voyou», als Gauner, und er nennt den Namen der Schule, die Adresse, den Namen des Lehrers. Die Angaben bleiben nur eineinhalb Stunden im Netz, dann löscht er sie. Doch da ist es schon zu spät. Samuel Paty ist jetzt eine Zielscheibe. Und die Schule erreichen Anrufe aus der ganzen Welt, es sind Drohungen dabei.
Nach zwei Tagen kontaktiert der Islamist Abdelhakim Sefrioui den Vater des Mädchens und bestärkt diesen in seiner Empörung. Sefrioui dreht ein Video für Youtube, zehn Minuten, interviewt darin Vater und Tochter, die wiederholen ihre Vorwürfe. Der Film trägt den Titel: «In einem staatlichen Gymnasium werden der Islam und der Prophet beschimpft.» Zehntausende schauen sich ihn an.
Die Kampagne gegen Samuel Paty wird immer heftiger, auch auf anderen sozialen Medien, die falsche Erzählung ist nicht mehr zu stoppen. Ein 18-jähriger Tschetschene aus Évreux, der sich erst im Sommer im Netz radikalisiert hat, wird auf die Geschichte aufmerksam. In den sozialen Medien schreibt er: «Ihr werdet sehen, bald kommt der Tag, dass man von mir redet.» Er setzt sich mit Brahim Chnina in Kontakt, sie telefonieren mehrmals. Der junge Mann will Dinge über Paty erfahren, er kennt den Lehrer nicht.
Am 16. Oktober fährt er nach Conflans-Sainte-Honorine, mit einem Messer. Er bietet einer Gruppe von Schülern Geld an, wenn sie ihm sagen, wer Samuel Paty ist. 300 oder 350 Euro. Drei sind bereit. Dann folgt er Paty auf seinem Heimweg. Es ist kurz vor 17 Uhr, der letzte Tag vor den Herbstferien. Er tötet Samuel Paty auf offener Strasse und postet ein vorbereitetes Bekennerschreiben: «Ich habe einen deiner Hunde aus der Hölle exekutiert, der Mohammed erniedrigt hat. Es ist Monsieur Paty.» Zehn Minuten später ist auch der Attentäter tot, erschossen von der Polizei.
Die Freunde, die Kontakte – und das «Duo infernal»
Vor Gericht stehen jetzt zwei Freunde des Täters. Sie waren dabei, als der Attentäter das Messer kaufte, einer von ihnen fuhr ihn von Évreux nach Conflans-Sainte-Honorine. Ausserdem angeklagt sind vier Personen, mit denen er Kontakt hatte während seiner Radikalisierung.
Und, eben, das «Duo infernal». Sind sie Handlanger des Terroristen, weil sie ein falsches Gerücht in Umlauf brachten, weil sie in den sozialen Medien gegen Samuel Paty hetzten, weil sie ein Klima des Hasses geschürt haben?
Die Rechtfertigung der Angeklagten
Beide wehren sich gegen den Vorwurf. Der Vater der Schülerin sagt, er habe nur Patys Rauswurf erzwingen wollen, eine disziplinarische Strafe. Mit dem Attentäter habe er nie über dessen Pläne gesprochen. Der Islamist Sefrioui sagt, die Ermittlung habe gezeigt, dass der Attentäter sich sein Video auf Youtube nie angeschaut habe, darum könne er nicht verantwortlich gemacht werden.
Der Prozess in Paris soll sieben Wochen dauern. Er findet im selben Saal statt, wo schon die Anschläge auf die Konzerthalle Bataclan, die Strassencafés und das Stade de France im Herbst 2015 verhandelt wurden.
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