Nachruf auf Simon FieschiDie Terroristen trafen ihn als Ersten bei «Charlie Hebdo» – er überlebte, bis jetzt
Der Webmaster wurde schwer verletzt beim islamistischen Terroranschlag auf die französische Satirezeitung. Die berührende Geschichte eines Überlebenskampfes.
Manche Wunden heilen nie, auch nach zehn Jahren nicht, vor allem die Wunden drinnen. Frankreich trauert um Simon Fieschi, einen Überlebenden des terroristischen Anschlags auf die Redaktion der Satirezeitung «Charlie Hebdo» im Januar 2015. Man fand seinen leblosen Körper in einem Pariser Hotel, er wurde nur 40. «Libération» schreibt: «Das Blutbad bei ‹Charlie› fordert ein weiteres Todesopfer.»
Die Nachrufe in den französischen Zeitungen lesen sich wie Hommagen an einen Mann, der mit einer besonderen Kraft und Ironie sein Schicksal trug – und sein Schuldgefühl, überlebt zu haben. Nur knapp zwar, mit schweren Verletzungen, grossen Schmerzen und in ständiger Zerrissenheit, aber eben dennoch.
Fieschis Büro war das erste beim Eingang
7. Januar 2015, 11.33 Uhr. Die Brüder Saïd und Chérif Kouachi, beide islamistische Terroristen, Mitglieder von al-Qaida, betreten das Gebäude im 11. Arrondissement, in dem die Zeitung ihre Redaktion hat. Sie sind da, um den Propheten zu rächen, wie sie sagen, den Propheten Mohammed. «Charlie» hat ihn oft karikiert, wie sie bei «Charlie» alle Obrigkeiten karikieren, die politischen und die religiösen. Die Kouachis sind bewaffnet mit Kalaschnikows. Im Treppenhaus treffen sie auf Coco, eine Zeichnerin der Wochenzeitung, sie bedrohen sie, sie pressen den Sicherheitscode aus ihr heraus, der öffnet die Tür zur Redaktion. (Lesen Sie hier unseren Kommentar vom 7. Januar 2015.)
Und da, im ersten Büro beim Eingang, sitzt Simon Fieschi, der Webmaster von «Charlie», vor seinen zwei Bildschirmen. Fieschi kümmert sich um die Webseite der Zeitung und um deren Konten auf den sozialen Medien. Er hört ein Allahu-Akbar, einen Schuss, dann ist er bewusstlos. Die Sequenz dauert nur ein paar Sekunden. Als er in den Notfall kommt, versetzen ihn in die Ärzte in ein künstliches Koma. Die Kugel aus der Kalaschnikow von Chérif Kouachi hat Fieschis Körper fast ganz durchdrungen, Hals, Lunge, Rückenmark.
Er wacht erst eine Woche später wieder auf. Er weiss nichts, man muss ihm alles erzählen: das Blutbad in der Redaktion, die zwölf Toten, acht Kollegen, zwei Polizisten, der Hausmeister, ein Gast der Redaktion, die vielen Verletzten, die Fahndung und Tötung der Attentäter, die Terrorangst der Pariser, die in diesem Jahr 2015 noch mehr dramatische Momente erleben würden.
«Ich habe lange gebraucht, um überhaupt zu verstehen, was passiert ist», sagt er später. «Dann verwechselte ich immer, wer gestorben war und wer noch lebte.» Irgendwann habe er sich nicht mehr getraut zu fragen. «Es war ein absurdes Unbehagen.» Die Trauer, der Zorn, die Emotionen, die verqueren Schuldgefühle – das alles sollte erst später kommen.
Er wollte keinen Stuhl, er wollte aufrecht Zeugnis ablegen
Acht Monate lang wird er im Militärspital liegen, Therapien machen. Die Ärzte sagen ihm, er werde nie mehr gehen können. Fieschi kann weder seine Beine noch seine Arme bewegen. Doch 2020, als der Prozess gegen die Komplizen der Terroristen beginnt, ist auch er im Gerichtssaal und erzählt in allen Details, was eine «Kriegswaffe» anrichten kann. Sie schieben ihm einen Stuhl zu, er stützt sich auf seine Krücke und sagt: «Nein danke, ich will mein Zeugnis aufrecht leisten.» Er sagt auch: «Diese Kugel hat mich nicht verfehlt, aber sie hat mich auch nicht besiegt.» Fieschis Auftritt im Prozess war ein besonders emotionaler.
Die anderen Überlebenden des Attentats, die Zeichner und Redaktoren, hatten ihre Ausdrucksformen, um den seelischen Schmerz zu verarbeiten, so gut es eben ging. Simon Fieschi, der Webmaster, beschäftigte sich mit Zahlen: Er berechnete, wie viel Geld den Verletzten und den Angehörigen an Entschädigung zustand. «Opfer eines Attentats: Das ist ein Vollzeitjob», sagte er einmal. Er redete vor Schulklassen und in den Medien.
Vor ein paar Wochen erst sass er im Prozess gegen den mutmasslichen Terroristen Peter Cherif, auch als «Gehirn» hinter dem Attentat gegen «Charlie Hebdo» bekannt, weil er die Brüder Kouachi angeheuert hatte. Fieschi nahm seine Tochter mit, sie ist erst fünf. Damit sie Bescheid wisse, sagte er, und damit sie, wenn sie gross sei, mit Fragen umgehen könne.
Einmal klagte er, dass er seit dem Attentat seine Daumen nicht mehr biegen könne, dass er deshalb auch keinen Stinkefinger mehr machen könne: «Manchmal juckt es mich.»
Woran Simon Fieschi starb, war zunächst unklar. Die Autopsie ergab keine gesicherten Hinweise auf die Todesursache. François Hollande, der 2015 Präsident war, schreibt auf X: «Es gibt Wunden, die viele nicht mehr sehen, die sich aber nicht schliessen. Ich werde Simon nie vergessen.» Und «Charlie Hebdo» ruft ihm nach: «Er war lustig, wach, ein unablässiger Kämpfer für die Freiheit. Er liess es nicht zu, dass die gewinnen, die ihn vernichten wollten.»
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