Akustische IntelligenzWie ein Zürcher Unternehmen Maschinen das Hören beibringt
Die Firma Rocket Science brachte bereits eine Kehrichtverbrennungsanlage zum Schweigen. Jetzt entwickelt sie ein KI-Stethoskop zur Diagnose von Atemwegserkrankungen.

- Das Zürcher Unternehmen Rocket Science entwickelt innovative Lösungen zur Geräuschmusteranalyse.
- In Luzern optimierte die Firma erfolgreich den Betrieb einer Kehrichtverbrennungsanlage.
- Das Pneumoscope soll für unter 150 Dollar in abgelegenen Regionen einsetzbar sein.
Kann eine Maschine besser hören als ein Arzt? Was wie Science-Fiction klingt, wird in einem unscheinbaren Altbau im Entwicklungsgebiet Zürich-Binz bei einem Unternehmen namens Rocket Science zur Realität.
Mit dem Potenzial, die medizinische Diagnostik zu revolutionieren, bringt das zehnköpfige Team um Techniker Christian Frick und Firmenchef Philippe Niquille Maschinen bei, was Geräusche verraten können. Und dabei hat Rocket Science mit Raketen gar nichts am Hut – wohl aber mit Mathematik, Modellierung, Akustik und künstlicher Intelligenz.
«Ich liebe es, wenn Zahlen und physikalische Phänomene zusammenkommen»
Im Zentrum steht die Idee, dass Maschinen, Prozesse und Produkte über ihre akustischen Signaturen mehr verraten, als man denkt. «Wir arbeiten daran, dass Technik hören lernt», sagt CEO Niquille. Seine Firma sei kein Start-up mehr, sondern ein klassisches KMU, das in enger Zusammenarbeit mit Kunden praxistaugliche Lösungen entwickelt.
Beispiele? Etwa eine Kaffeemaschine, die am Geräuschablauf erkennt, welcher Mitarbeitende sich gerade einen Espresso zubereitet. Oder ein Roboter, der sich selbst und seiner Umgebung «zuhören» kann – und damit Wartungsbedarf frühzeitig erkennt.
Gegründet wurde Rocket Science von Christian Frick, Biochemiker, Dozent an der ETH und passionierter Sound-Engineer. Er hatte in der Aktionshalle der Roten Fabrik in Zürich akustisch anspruchsvolle Konzerte abgemischt und weiss, wie schwierig es ist, in komplexen Räumen den richtigen Ton zu finden.
Mit dieser Erfahrung im Gepäck entwickelte er Lösungen, die ursprünglich für die Veranstaltungsbranche gedacht waren, aber heute auch in hochsensiblen Industrieumgebungen zum Einsatz kommen. Frick ist ein Tüftler, der mit zwei eigenen Fachschulen auch die Ausbildung in Akustik und Tontechnik geprägt hat.
«Ich liebe es, wenn Zahlen und physikalische Phänomene zusammenkommen und wir daraus etwas Praktisches machen können», sagt Frick.

In der Werkstatt lötet Frick selbst die Elektronik zusammen, die nach Plänen von Rocket Science in China gefertigt werden – etwa für die ersten Prototypen eines kleinen elektronischen Hörgeräts für die Lunge. Doch dazu später.
Lernen aus Lärm: Beispiel Kehrichtverbrennungsanlage Luzern
Eines der ersten Grossprojekte von Rocket Science war die Lärmanalyse und -kontrolle bei einer Kehrichtverbrennungsanlage im Kanton Luzern. Dort sorgte ein tieffrequentes, dröhnendes «Tuten» aus dem Kamin für Beschwerden von Nachbarn.
Rocket Science installierte ein eigens dafür entwickeltes System zur aktiven Gegenschallunterdrückung, ähnlich dem Prinzip von Noise-Cancelling-Kopfhörern. Sensoren registrierten die Schallwellen, Prozessoren berechneten Gegenschall, der über gigantische Lautsprecher in den Schornstein gespeist wurde – mit bis zu 20 Dezibel weniger Lärm.

Das entspricht nicht nur einer subjektiv viermal leiseren Wahrnehmung, sondern bedeutet physikalisch eine Reduktion der Schallenergie um 99 Prozent. Die Nachbarn waren entsprechend erleichtert.
Doch dabei blieb es nicht. Die detaillierte Analyse der Lärmmuster brachte zutage, dass der eigentliche Grund für die Resonanz ein suboptimaler Ausbau der Verbrennungsanlage war.
Als dieser angepasst wurde, war das Problem dauerhaft gelöst. Das System zur Lärmkompensation konnte wieder abgeschaltet werden. So wurde die Schallmessung zum Werkzeug der Prozessoptimierung – ein Paradebeispiel für die Philosophie von Rocket Science.
Medizinische Innovation mit dem Pneumoscope
Noch deutlich grösser ist das Potenzial im medizinischen Bereich. Gemeinsam mit dem Westschweizer Med-Techunternehmen Onescope und dem Kinderarzt und Professor Alain Gervaix vom Genfer Unispital entwickelte Rocket Science das Pneumoscope.

Das Gerät kombiniert ein digitales Stethoskop mit einem Oximeter und einem Thermometer. Herzstück ist jedoch die KI-Software «DeepBreath», die anhand von Atemgeräuschen selbstständig Erkrankungen wie Bronchitis, Asthma oder Lungenentzündung erkennt – und sogar deren Schweregrad einstufen kann.
Was das Pneumoscope so besonders macht, ist die Kombination aus Einfachheit und technologischem Anspruch, sagt Projektleiter Alain Gervaix. Anders als viele Konkurrenten, die sich auf eine einzige Erkrankung fokussieren – etwa Asthma –, erkennt das Gerät mehrere Atemwegserkrankungen und stuft deren Schweregrad ein.

Zudem vereint es drei Funktionen in einem einzigen kompakten Gerät: digitales Stethoskop, Pulsoximeter und Thermometer. «So etwas gibt es bisher weltweit nicht», sagt Gervaix – und nennt das Ziel: ein medizinisches Diagnosegerät, das unter 150 Dollar kostet und auch in entlegenen Regionen in Afrika und Asien zuverlässig funktioniert.
Klinische Validierung läuft
Aktuell läuft die klinische Validierung in Genf und Kinshasa. Bis zur Marktreife soll es nicht mehr lange dauern: «Wir hoffen, das CE-Zertifikat bis Ende 2025 zu erhalten», sagt Gervaix. Rocket Science lieferte die gesamte Hard- und Softwareintegration. «Wir wollen das System so klein und robust machen, dass es mobil einsetzbar ist», sagt Philippe Niquille.
Die Arbeit von Rocket Science beruht auf Vertrauen, Neugier und der Bereitschaft zum gemeinsamen Lernen. Die Künstlerin Hannah Weinberger, die für ihre Installationen seit Jahren mit dem Team kooperiert, beschreibt es so: «Sie denken und handeln nicht als Dienstleister, sondern werden zu Mitgestaltern.»
Maschinelles Hören als Zukunftstechnologie
Neben Industrieanlagen, Medizin und Kunst arbeitet Rocket Science auch an Anwendungen für Konsumgüter: Haartrockner, Kaffeemaschinen, Haushaltsgeräte, Kopfhörer. In all diesen Produkten steckt das Potenzial, das akustische Profil zu nutzen: zur Steuerung, zur Diagnose oder schlicht für ein besseres Nutzererlebnis.
Was Rocket Science besonders macht, ist die Integration von Disziplinen. Physiker, Mathematiker, Ingenieure und Programmierer arbeiten hier auf Augenhöhe zusammen. Christian Frick sagt dazu: «Wir modellieren die Welt akustisch – um sie besser zu verstehen und zu gestalten.»

Börsengang? Verkauf an einen Konzern? Wachstum auf Teufel komm raus? Philippe Niquille winkt ab: «Rocket Science will als unabhängige Firma bestehen bleiben. Wir arbeiten lieber mit unseren Kunden weiter daran, dass Technik hören lernt – und verstummt, wenn sie stört.»
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