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Lärmklagen nach Festivals
Wird unsere Musik immer lauter?

EHFP3J Rasta standing near soundsystem at Notting Hill Carnival London.
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In Kürze:
  • In der Schweiz klagen immer mehr Leute über Lärmbelästigungen durch Open-Air-Festivals.
  • Obwohl die Lautstärken streng reguliert sind, wird die Musik in der Nachbarschaft als lauter empfunden.
  • Bands setzen zunehmend auf basslastige Klänge und vorproduzierte Spuren.
  • Ein System zur Schallreduktion existiert, wird aber nicht angewendet.

Es gehört zu den Ritualen des Sommers: Nach einem musikalischen Grossanlass folgt das grosse Jammern. Als Land mit der weltweit höchsten Dichte an Open Airs gibt es in der eng besiedelten Schweiz vermutlich auch die grösste Menge an Klagen über musikalische Emissionen. Neuerdings gehen Reklamationen über Nachtruhestörungen und schlafraubende Bässe selbst aus kilometerweit entfernten Quartieren ein. 

Der Tenor: So schlimm war es in vergangenen Jahren nie. Und der meistgehegte Verdacht: Die Musik an diesen Freiluft-Festivals werde immer lauter. Zeit also, das Phänomen ein bisschen näher zu erforschen. Und gleich eine Entwarnung vorauszuschicken. «Nein, generell lauter ist die Livemusik in den letzten Jahren nicht geworden», sagt einer, der es wissen muss: Samuel Berger ist Bühnen-Manager des Gurtenfestivals, verantwortet die Beschallung der Bad-Bonn-Kilbi in Düdingen oder des Hip-Hop-Festivals Spex, das letztes Jahr in Bern für weiträumige Unruhe unter der Bevölkerung gesorgt hat.

«Die Lautstärkenlimite von 100 Dezibel ist seit Jahren unverändert und wird auch minutiös kontrolliert», sagt er. Hörte man früher noch von internationalen Bands, die sich um diese Limiten foutierten, herrsche heute eiserne Disziplin hinter den Mischpulten.

Denn gebüsst wird nicht die Band, sondern der Veranstalter, weshalb den Technikern auch immer jemand im Nacken sitzt, der auf ungebührliche Ausschläge des Dezibel-Messgeräts hinweist.

Der Trend zum tiefen Bass

Was Samuel Berger aber auffällt, ist, dass es fast keine Band mehr gibt, die ausschliesslich auf das althergebrachte Instrumentarium – sprich auf Schlagzeug, Bass und Gitarre – setzt: «Praktisch alle Festival-Produktionen setzen auf vorproduzierte Spuren im Halbplayback, die dazu dienen, den Sound fetter zu machen», sagt der Berner. 

Zuschauer verfolgen ein Konzert bei der Hauptbühne am Gurtenfestival 2024 in Wabern, am 20.07.2024.  Foto: Christian Pfander / Tamedia AG

Ein Beispiel: Herkömmliche Schlagzeugpauken können von einem Tontechniker nur mittels Tonregelung am Mischpult in den gewünschten Frequenzbereich gemischt werden. Doch das Klangspektrum ist vom Instrument her limitiert. Um das physische Erleben bei limitierter Lautstärke zu potenzieren, werden die meisten Pauken heute mit elektronischen Tieftonfrequenzen angereichert. «Es ist also so, dass die Bands gelernt haben, trotz der Lautstärkenlimiten ein sattes Soundbild zu kreieren», sagt Samuel Berger.

Noch weit fundamentaler ist die Freude an tiefen Bässen in den aktuellen Spielarten des Hip-Hop. Hier nehmen die synthetischen Tieftonbässe längst die Hauptrolle im Klangdesign ein. Diese Bässe sind es denn auch, die sich unter freiem Himmel um ein Vielfaches weiter verbreiten, als schrille Mittelfrequenzen. 

Dazu kommt, dass die weltweit angewandte Lautstärke-Messmethode (dBA) einzig auf den Schutz des Gehörs ausgerichtet ist. Die Bauchfell-massierenden Bässe eines Trap-Acts schädigen das Ohr kaum, weshalb ihnen in dieser Erhebung mehr Toleranz gewährt wird. Will heissen: Eine Band, die nur auf schrille Gitarren setzt, erreicht die Lautstärkenlimite viel eher als ein Rapper, der sich vom vorproduzierten und im Studio komprimierten Playback seines bassverliebten DJs begleiten lässt. 

Bässe sorgen für Erregung

Die Musik ist also nicht lauter, sondern basslastiger geworden und strahlt deswegen tatsächlich weiter in die Landschaft als in vergangenen Zeiten. Um dies nachzuvollziehen, höre man sich nur mal Nirvanas Album «Nevermind» im Direktvergleich zu einem x-beliebigen Trap-Track aus der Neuzeit an. Es klingt, als vergleiche man ein Transistorradio mit einer Club-Beschallungsanlage.

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Es gibt diverse Studien, die diese Entwicklung zur zunehmenden Basslastigkeit belegen. Eine davon («The Evolution of Popular Music: USA 1960–2010») kommt sogar zum Schluss, dass der Rückgang von Rockmusik als dominantes Genre und der gleichzeitige Siegeszug des Hip-Hop vermutlich auf ebendiese Bassdominante zurückzuführen ist. 

Denn basslastige Musik wird in den meisten Fällen als stimulierend und glückssteigernd empfunden. Studien haben ergeben, dass sich Menschen stärker verbunden fühlen, wenn sie basslastiger Musik ausgesetzt sind, sie fühlen ein stärkeres Verlangen, sich zu bewegen. Und weil tiefe Frequenzen auch das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren, führe dies gar zu einem gesteigerten Gefühl der Erregung. 

Dass diese Bässe bei den Anwohnerinnen und Anwohnern eine zunehmend negative Erregung auslösen, dessen ist man sich in der Branche durchaus bewusst. Am altehrwürdigen Festival in Glastonbury wurde wegen Lärmklagen gar die Politik eingeschaltet. Deshalb überwacht nun ein 30-köpfiges Team, dass sämtliche Limiten eingehalten werden und dem Festival somit ein Lizenz-Entzug erspart bleibt. 

Auch für Samuel Berger ist es längst Teil seiner Arbeit, Berechnungen und Simulationen zu erstellen, wie sich der Schall bei einer Freiluftveranstaltung verbreiten wird. Aufgrund solcher Modelle werden die Bühnen platziert oder die verschiedenen Elemente der Tonanlage ausgerichtet. «Doch es gibt Faktoren, welche genaue Vorberechnungen, wohin es die tiefen Frequenzen letztlich treiben wird, erschweren. Zum Beispiel Wind, Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder das Publikum», sagt der Tontechniker. 

Die Lösung stünde bereit

Die gute Nachricht ist: Eigentlich gibt es eine Lösung für das ganze Schlamassel. Man wäre heute in der Lage, den Schall quasi am Festival-Zaun an der weiteren Entfaltung zu hindern. Die schlechte Nachricht: Das System dafür steht momentan nicht mehr im Angebot. Die Zürcher Firma Rocket Science hat sich auf das Gebiet der aktiven Lärmkontrolle spezialisiert und im letzten Jahrzehnt ein System entwickelt, das den Nachbarn von musikalischen Grossereignissen durchwachte Nächte ersparen könnte.

Die Krux: Man muss dafür eine ähnliche Menge an Bassboxen auf dem Gelände aufbauen, wie für die Tonanlage zur Beschallung des Geländes herangekarrt worden sind. Dann muss man diese Systeme speziell synchronisieren. Nämlich so, dass ab einem bestimmten Punkt auf dem Gelände den Basswellen mit einem gespiegelten Gegenschall begegnet wird, und – ähnlich dem Active-Noise-Cancelling-Kopfhörer – eine Auslöschung stattfindet. 

Gurtenfestival 2024

Kopfbedekungen auf dem Gurten





© Franziska Rothenbuehler | TAMEDIA AG

Das System wurde an diversen Festivals in ganz Europa getestet, und man erreichte damit eine Schallreduktion im Tieftonbereich von 15 bis 20 Dezibel. Zur Erklärung: Eine Reduktion von 20 dB bedeutet tausendmal weniger Lärmenergie.

«Ein kommerzielles Paradoxon»

Wenn schon eine solche Wunderwaffe gegen Schallemissionen existiert, warum kommt sie kaum zum Einsatz? Anruf beim Firmenchef Philippe Niquille. Seine Antwort ist traurig und schlicht: «Wir bieten unsere Lösung nicht mehr an, weil die Nachfrage zu klein war.» Mit dem Einsatz eines solchen Systems würde sich ein Festival verteuern. Um wie viel, kann Philippe Niquille nicht sagen, da es sich um einen Prototyp handelte, den man so weiterentwickelt hätte, dass er ohne Rekrutierung von Gegenschallexpertinnen rund um die Uhr autonom funktioniert hätte. 

Doch dann kam Corona. Die Konzertindustrie lag brach, kämpfte in vielen Regionen sogar um ihre Existenz und ist auch seither nicht in der Laune, grössere Investitionen zur Verbesserung des Nachbarschaftsklimas zu tätigen. Rocket Science hatte noch gehofft, dass jene Firmen auf das System setzen könnten, die die Tonanlagen bauen. Doch auch daraus wurde bisher nichts. «Es ist ein kommerzielles Paradoxon», resümiert Philippe Niquille. «Letztendlich braucht es jemanden, der gewillt ist, den Mehraufwand zu bezahlen. Und dieser Wille hat gefehlt. Die Verursacher müssen und die Betroffenen wollen für die Schallreduktion nichts bezahlen.» 

Deshalb hat die Firma ihren Fokus mittlerweile auf Bereiche gelegt, in der ihre Expertise eher monetarisiert werden kann: Sie macht Industrieanlagen mit Gegenschall leiser oder ist auf dem Gebiet der Robotik tätig. 

Technik oder Toleranz

Und so dürfte das Klagen weitergehen: Konzerte ziehen einen grossen Teil ihres Reizes aus dem physischen Erleben der Musik. Dies einzudämmen, käme einer Sterilisation des Mediums und einem Negieren seiner Entwicklung gleich. Der deutsche Hörforscher Eckhard Hoffmann hat es einmal so umschrieben: Die Lautstärkenlimiten noch weiter als die allseits anerkannten 100 Dezibel zu reduzieren, wäre etwa dasselbe, als würde man das Skifahren ausserhalb der blauen Pisten verbieten. «Das wäre zwar sicher, würde aber keinen Spass mehr machen.»

Und der Musiker und Musikwissenschafter Steve Goodman hat das Gefühl, wenn der Bass den Körper erfasst und zum Vibrieren bringt, in seinem Buch «Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear» als ein geradezu «philosophisches Erlebnis» umschrieben. Dieses haptische Abenteuer ist letztlich einer der Gründe, warum Menschen, allen Abgesängen zum Trotz, noch immer gerne Konzerte besuchen und warum sich gewisse Auftritte für immer ins Langzeitgedächtnis einfurchen. 

Bleibt also nur, Toleranz zu üben. Oder die Hoffnung, die Technik werde es irgendwann doch noch richten. Können täte sie es schon.