SBB-Chef zur Gotthard-Sperrung«Bei den Gleisen ist der Worst Case eingetreten»
Warum dauern die Reparaturen im Gotthard so lange? SBB-Chef Vincent Ducrot erklärt, was zurzeit Probleme bereitet und wie die SBB Pendlerinnen und GA-Besitzern Hand bieten wollen.
Herr Ducrot, statt wie erst angenommen im Januar wird die zweite Gotthardröhre voraussichtlich erst im September wieder vollständig in Betrieb genommen. Der Tunnel wird rund ein Jahr gesperrt sein. Wie frustrierend ist diese Verzögerung für Sie als Bahnchef, und wie kam es dazu?
Frustrierend ist es nicht, das sind Fakten, und ich bin ein sehr faktenorientierter Mensch. Als wir die ersten Informationen aus dem Tunnel bekommen haben, hatten wir grossen Respekt und informierten deshalb vorsichtig, dass, falls es keinen grösseren Schaden gibt, der Tunnel bereits wieder Anfang Jahr geöffnet werden könnte. Nun mussten wir aber feststellen, dass bei den Gleisen der Worst Case eingetreten ist. Selbstverständlich würden wir alle den Tunnel gern viel rascher wieder nutzen, doch wir haben keine Wahl, wir müssen aufwendige Erneuerungen und Reparaturen vornehmen, und die brauchen ihre Zeit.
Die SBB haben viele der benötigten Teile für die Reparatur, wie etwa das beschädigte Spurwechseltor, nicht auf Lager. Das kostet Zeit. Hätte man auf ein solches Unfallszenario nicht besser vorbereitet sein können?
In der modernen Wirtschaft hat man nur im Lager, was auch effektiv gebraucht wird. Wir haben ein paar Hundert Schwellen, aber nicht die benötigten 20’000. Denn deren Austausch wäre erst in 30 Jahren geplant gewesen. Wir haben derzeit auch ein mobiles Tor im Einsatz, aber ein permanentes auf Vorrat zu haben, bringt nichts, denn ein solches würde normalerweise nie kaputtgehen. Es war hier wirklich ein sehr spezieller Fall. Und wissen Sie, wenn wir für jeden dieser besonderen Fälle ein Ersatzlager hätten, wäre unser ganzes Areal damit gefüllt. Und auch nicht die Bestellzeit ist das grösste Problem, sondern der Beton, jede einzelne Schwelle muss 30 Tage trocknen.
Kurz nach dem Unfall haben die SBB auf die Sensoren an den Tunneleingängen hingewiesen, welche normalerweise Sicherheitsrisiken an den Wagen registrieren würden. Es hat sich gezeigt, dass diese einen Radbruch nicht erkennen können. Haben sich die SBB in falscher Sicherheit gewiegt?
Nein, das ist ein Restrisiko. Oft lassen sich bevorstehende Radbrüche anhand einer Erhitzung des Rades erkennen, und eine solche hätten unsere Sensoren festgestellt. Wir wären also gewarnt gewesen. Beim Radbruch im Gotthard-Basistunnel war dies leider nicht der Fall. Der Wagen und damit auch dieses Rad wurden an diesem Tag zweimal automatisch und zweimal manuell kontrolliert, und es wurde nichts festgestellt. Jetzt muss die Unfalluntersuchungsstelle Sust untersuchen, wieso dies der Fall war.
Gibt es nun als Konsequenz daraus akribischere Kontrollen an den Güterzügen, nicht dass die zweite Röhre auch noch ausfällt?
Es gibt vorerst zwei Konsequenzen. Einerseits gibt es eine europäische Datenbank für «problematische» Radtypen, in diese wurde der betroffene Radtyp nun wegen der Meldung aus der Schweiz aufgenommen. Steht ein Rad darin, sind die Halter unter anderem gezwungen, dieses öfters mit Ultraschall kontrollieren zu lassen. Zweitens kontrollieren wir als SBB unser Material noch genauer und haben auch überprüft, ob wir ebenfalls gefährliche Radtypen im Einsatz haben, was nicht der Fall ist. Hier handelte es sich um fremdes Material, nicht um unser eigenes.
Nächstes Jahr an Ostern und in den Sommerferien wird die Röhre gesperrt sein. Was machen Sie, um den Schaden für den Tessiner Tourismus zu minimieren?
Wir passen den Fahrplan in Schritten an. Die jetzige Situation mit nur wenigen Fahrten am Wochenende durch die unbeschädigte Tunnelröhre wird also nicht von Dauer sein. Wir sind guter Hoffnung, auf den Fahrplanwechsel im Dezember für Reisende am Wochenende mehr und schnellere Verbindungen durch den Basistunnel zur Verfügung stellen zu können.
Derzeit nehmen nur fünf Züge am Wochenende den schnelleren Weg durch den Basistunnel. Wie viele werden es zum Fahrplanwechsel sein. Können Sie Zahlen nennen?
Nein, das kann ich noch nicht, dafür braucht es noch ein Okay der Trassenvergabestelle, zudem wollen wir auch mit Vertretern der Güterverkehrsbranche nochmals sprechen. Denn auch diese will die unbeschädigte Röhre möglichst viel beanspruchen, da laufen die Verhandlungen noch. Aber wir werden mit Sicherheit mehr und hoffentlich auch schnellere Personenzüge einsetzen können. Und an Feiertagen wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten mit sehr grossem Andrang braucht es natürlich Sonderlösungen mit deutlich mehr Zügen. Aber bitte vergessen Sie nicht, die Gotthard-Bergstrecke ist ja offen, und da verkehren auch regelmässig Personenzüge.
Die derzeitige Situation belastet auch Menschen, die aus dem Tessin in die Deutschschweiz pendeln. Und für diese machen zwei Stunden mehr am Tag einen riesigen Unterschied. Wie bieten die SBB da Hand?
Wir können nicht bei jeder ausserordentlichen Situation Anpassungen beim GA- oder Billettpreis vornehmen, dieser wird zudem von der Branchenorganisation Alliance Swiss Pass bestimmt. Einzelfälle haben wir jedoch gelöst, und bei diesen werden wir auch weiterhin nach Möglichkeit eine gute Lösung finden. Dafür haben wir einen Kundendienst, der mit den betroffenen Personen schaut. Es gibt zudem bereits spezielle Aktionen, beispielsweise wurde für die Jugend die Dauer des GA Night um eine Stunde verlängert.
Etwas konkreter bitte, was ist mit den Einzelfällen gemeint?
Es gibt beispielsweise Personen, die nicht mehr mit dem Zug pendeln können, weil die Fahrt nun zu lange dauern würde.
Wenn ich nun das Auto nehmen muss, erhalte ich das Geld für mein GA zurück?
Das GA kann hinterlegt werden, der Betrag für die entsprechende Zeitdauer wird zurückerstattet.
Kommen wir auf die Gesamtschadenssumme zu sprechen. Diese wird gemäss SBB zwischen 100 und 130 Millionen Franken betragen. Primär ist SBB Cargo haftbar, da diese den Zug führte, SBB Cargo ist aber versichert. Gehört diese Versicherung auch den SBB, und wie hoch ist der Selbstbehalt?
Wir haben die sogenannte SBB Insurance. Da haben wir eine maximale Schadenssumme, die weit über dem liegt, worüber wir hier reden. Die SBB Insurance wiederum ist rückversichert.
Wie hoch ist der Selbstbehalt?
Dies ist in Klärung. Deshalb kann ich keine Zahl nennen, aber sicher ein tiefer zweistelliger Millionenbetrag.
«Leider brach das Rad gerade im Gotthard-Basistunnel, es hätte aber auch überall sonst auf der Strecke passieren können.»
Wie wirkt sich dies finanziell für die SBB aus?
Es wird zwei Effekte haben. Den Selbstbehalt werden wir als Reserve definieren müssen, die Rückversicherer werden zudem ihre Prämien erhöhen, und wir werden über eine längere Zeit deutlich höhere Prämien bezahlen müssen. Am Schluss bleibt der Schaden also wohl an uns hängen, ausser es kann juristisch nachgewiesen werden, dass es einen Fehler beim Wageninhaber gab, und auf diesen Regress genommen werden.
Wegen einer Entgleisung im Gotthardtunnel ist der ganze Nord-Süd-Verkehr in der Schweiz gestört. Bräuchte es nicht vielleicht eine Erweiterung der Infrastruktur, also eine dritte Röhre?
Nein, denn ich hoffe, dass ein solches Ereignis in sehr vielen Jahren nicht mehr vorkommt. Wissen Sie, dieser Zug war auf dem Weg von Italien nach Deutschland, und leider brach das Rad gerade im Gotthard-Basistunnel, es hätte aber auch überall sonst auf der Strecke passieren können.
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