Psychoanalyse der VerrohungWas den Menschen zur Bestie macht
Wie lassen sich Zivilisten zu Unmenschen brutalisieren? Am ehesten dann, wenn Autoritäten die Gewalt zur Normalität erklären. Dann wird die Grausamkeit zur Gewohnheit.
Das Massaker in Israel, der Prager Amoklauf oder die Gräueltaten in Butscha sind die jüngesten Beispiele für unfassbare Grausamkeiten, die Menschen anderen Menschen antun können. Nach jedem Massaker von Terroristen, nach jedem rassistischen Attentat auf eine Kirche, nach jedem Amoklauf in einer Schule, nach jedem Folterskandal eines Rechtsstaates fragt man sich, wie so etwas passieren konnte.
Wer Gewalt gegen Zivilisten oder Gefangene einsetzt, also nicht aus einer Kampfhandlung heraus handelt, stellt uns vor beklemmende Fragen: Welche psychischen Bedingungen führten zum Beispiel dazu, dass amerikanische Lehrer innert kurzer Zeit vietnamesische Gefangene folterten? Wie ist zu erklären, dass sich ausgerechnet Ärzte besonders begeistert für den Nationalsozialismus engagierten? Wie konnten Psychologen im Gefängnis von Guantánamo beim Foltern mithelfen?
Manchmal werden fanatisierte junge Männer zu Mördern gemacht, während Massenmorden bis hin zum Völkermord oft jahrelange Diffamierungen vorausgehen. Etwa beim Genozid an den Jüdinnen und Juden nach der Verhetzung durch die Nationalsozialisten. Sie löste im November 1938 die Reichspogromnacht aus, den ersten Massenmord an Juden unter Adolf Hitler.
Auch in Ruanda, wo Hutu Mitte der Neunzigerjahre während 100 Tagen bis zu 800’000 Tutsi oder gemässigte Hutu vergewaltigten, mit Macheten verstümmelten oder ihre eigenen Nachbarn umbrachten, war der Massenmord geplant und die entsprechende Stimmung dafür geschaffen worden.
Das extreme 20. Jahrhundert
Wenn einer weiss, was den Menschen zur Bestie macht, wenn einer die Umstände, Bedingungen und Rechtfertigungen dafür kennt, dann ist das Robert Jay Lifton, ein heute 97-jähriger Psychoanalytiker aus New York. Er hat sich 70 Jahre lang mit der Haltung befasst, die er «totalism» nennt, die Tendenz von kollektiven zu totalitären Systemen. Und die Folgen dieser Systeme für ihre Opfer.
Der Psychiater forschte über die ideologischen Umprogrammierungsversuche der chinesischen Kommunisten, für die sich auch die CIA sehr interessierte, über Bau und Wirkung der Bombe von Hiroshima, über die Kriegsverbrechen amerikanischer Soldaten im Vietnamkrieg. Lifton untersuchte auch Sekten und andere Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Seine Memoiren nannte er «Witness to an Extreme Century», Zeuge eines extremen Jahrhunderts.
Statt sich in die Theorie zurückzuziehen, hatte sich der Psychiater sein Wissen mit Tausenden Interviews erarbeitet, die er mit Opfern und Tätern führte. Er nannte sein Verfahren «Psychohistorie». Dass er die Erlebnisse und Ansichten seiner Gesprächspartnerinnen und -partner ausgehalten habe, schreibt er, habe er seiner Frau zu verdanken. Dennoch glaubt er bis heute, dass Wissen vor Wiederholung schützt. Er glaubt auch, dass ein psychisches Überleben solcher Erfahrungen möglich ist.
Sie massakrierten die ganze Dorfbevölkerung
Als entscheidende Bedingung für menschliche Grausamkeit nennt der Psychoanalytiker «Gräuel erzeugende Situationen». Im Gespräch mit dem Magazin «The New Yorker» zitierte er unlängst das Massaker von My Lai als Beispiel. Am Morgen des 16. März 1968 überfielen junge amerikanische Soldaten ein vietnamesisches Dorf und ermordeten seine Bewohnerinnen und Bewohner, auch Alte, auch Frauen und Kinder. Über 500 Menschen sollen an diesem Tag getötet, viele Frauen vorher vergewaltigt und Männer gefoltert worden sein. Keines der Opfer trug eine Waffe. Die amerikanischen Täter waren erst seit einigen Monaten im Kriegseinsatz gewesen.
Das US-Militär verschwieg das Kriegsverbrechen. Erst als der Recherchejournalist Seymour Hersh in einer kleinen Nachrichtenagentur Details dazu veröffentlichte, griffen Medien wie die «New York Times» oder «Life» das Thema auf. Bei der darauf folgenden Gerichtsverhandlung wurden vier Offiziere und zwei Unteroffiziere angeklagt und einer von ihnen verurteilt; Präsident Richard Nixon sprach ihn bei erster Gelegenheit frei.
Robert Lifton analysiert, welche «Gräuel erzeugende Situationen» das Massaker von My Lai begünstigt hatten. Er nennt eine fatale, sich gegenseitig steigernde Kombination aus militärischen Befehlen und der «wütenden Trauer» der jungen Soldaten. Kurz vor dem Angriff musste die Truppe den Tod eines von ihr geliebten, väterlichen Unteroffiziers verkraften. «Es gibt keine unschuldigen Zivilisten», hätten die Soldaten bei der Trauerfeier von ihren Offizieren gehört. Und das als Aufforderung interpretiert, beim Angriff auf My Lai alle Dorfbewohner niederzumachen. Trauer über einen Verlust in Gewalt gegen den Gegner umzuwandeln, ist eine häufige Strategie der Brutalisierung.
Grausame sind nicht psychisch krank
Zur Verrohung der Menschen sagt Lifton auch, was man von anderen Fachleuten hört. Nämlich dass sich grausames Verhalten nicht als Beweis für eine psychische Störung anführen lässt: «Auch durchschnittliche Menschen begehen Gräueltaten.» Bedingung dafür seien ein Staat oder eine militärische Führung, welche die Gewalt zur Normalität erkläre. Wie in Hitlers Deutschland, wie im Ruanda der Hutu.
Dazu gehört auch das aggressive Bestehen auf dem Tragen einer Waffe in den USA, die sehr häufigen Amokläufe sind eine Folge davon. Auch in einer Schweizer Diktatur, hat der deutsche Psychologe Jan Ilhan Kizilhan in der «Neuen Zürcher Zeitung» jüngst vorausgesagt, wäre ein Drittel der Einwohner sofort bereit, «zu foltern, zu schlagen, zu demütigen».
Das gilt auch für die hohe Zahl deutscher Ärzte, die sich in den Dreissigerjahren den Nationalsozialisten anschlossen. Viele von ihnen, die Robert Lifton befragte, begründeten ihre tödlichen Menschenversuche mit der Hoffnung auf wissenschaftlichen Fortschritt. Den Holocaust rechtfertigten sie als Bewahrung der deutschen Rasse vor angeblich degenerierten jüdischen, homosexuellen und slawischen Genen. Einer der Ärzte fragte Robert Lifton im Gespräch, was denn besser sei, «in der Scheisse zu sterben oder durch das Gas in den Himmel zu kommen?». In seinen Memoiren beschreibt Lifton seine Gefühle ohnmächtiger Wut und Demütigung, die er als Jude in solchen Momenten empfand. Auf Reue traf er fast nie.
Solche Erfahrungen, die auch anderen Fachleuten widerfahren sind, bestätigen die berühmte Denkfigur der Politologin Hannah Arendt von der «Banalität des Bösen». Das war ihre Schlussfolgerung von 1963 aus dem Prozess für Adolf Eichmann, dem Planer der Vernichtungslager. Arendt hatte den Prozess in Israel verfolgt und im «New Yorker» darüber berichtet. Ähnlich sieht es der deutsche Soziologe Stefan Malthaner, der viele Gespräche mit Mitgliedern der Hamas geführt hat. Aus der Erforschung solcher Terrorgruppen wisse man, sagte er dem «Spiegel», «dass die Profile ihrer Mitglieder vergleichsweise durchschnittlich sind».
Vergewaltigung als Strategie
Und es sind fast immer Männer, die foltern und töten. Wie die Statistik zeigt, sind 90 Prozent der Mörder Männer und auch 80 Prozent ihrer Opfer. Frauen werden dafür mit einer Form der Gewalt gequält, die ebenfalls als militärische Taktik eingesetzt wird, man hat das beim Angriff der Hamas wieder erleben müssen: der systematischen Vergewaltigung als Form des Terrors und der Entwertung sowohl der Frauen wie auch ihrer Männer.
Als weiteres Motiv für die Eskalation der Gewalt nennt Robert Lifton das Unrecht, das die Täter und ihre Angehörigen selbst erduldet haben; daraus rationalisieren sie ihre Reaktion als berechtigte Rache. Die Folge einer beidseitig eskalierenden Gewalt beschreibt er als «psychische Betäubung» der Täter, das Wegfallen jeglicher Empathie. Dadurch entwickelt sich Grausamkeit zur Gewohnheit.
Sigmund Freud hatte uns gewarnt
Ist diese Tendenz zur Grausamkeit in uns eingebaut, funktioniert sie als evolutionärer Bestandteil des Überlebens? Dann hatte Sigmund Freud recht, der uns in seiner stoischen Spätschrift «Das Unbehagen in der Kultur» davor warnte, die Zivilisation zu verklären. Als Therapeut verweigerte er das Heilsversprechen, als Skeptiker ging er vom Schlimmsten aus, entsetzt über das Massensterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.
In seinem kulturtheoretischen Essay beschreibt Freud die Fähigkeit der Menschen, «einander bis auf den letzten Mann auszurotten». Er wollte psychisch Kranken helfen, glaubte aber nicht an die Besserung des Menschen. Damit stand er bis zuletzt zu seinen dunkelsten Überzeugungen. «Die Grösse Freuds ist darin zu bemessen», kommentierte Theodor Adorno, «dass er es wie alle radikalen bürgerlichen Denker vermied, systematische Harmonie erzeugen zu wollen, wo die Sache selbst in sich zerrissen war.»
Freud konnte beim Schreiben seines Buches auch nicht wissen, wie sehr sich seine Überzeugungen bewahrheiten würden. «Das Unbehagen in der Kultur» erschien 1930, also drei Jahre bevor Hitler an die Macht kam. Als die Nationalsozialisten Freuds Bücher und die vieler anderer Autoren verbrannten, notierte er in seinem Tagebuch: «Was für ein Fortschritt. Früher hätten sie mich verbrannt.» Was die Faschisten den Jüdinnen und Juden antaten, blieb ihm als Erkenntnis erspart, Freud starb schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in London an Krebs. Seine vier Schwestern wurden von den Nationalsozialisten ermordet.
Ausser Frage steht, dass verrohende Umstände die Brutalisierung beschleunigen. Der Philosoph Klaus Theweleit zum Beispiel glaubt, die Grausamkeit terroristischer Gruppen habe mit ihrer Sozialisierung zu tun. Religion, Armut, Demütigung und Hoffnungslosigkeit könnten einen jungen Mann radikalisieren, sagt er im Gespräch. «Was ist in ihrer Familie schiefgelaufen, in der Schule, in den Beziehungen zu Frauen, mit den Behörden?» Dennoch warnt er davor, Gewalttäter zu pathologisieren. Denn dadurch werde ihr Verhalten zu einem Extrem abgespalten.
Wie sagte ein junger serbischer Soldat auf die Frage eines Journalisten, warum er Zivilpersonen foltere. «Because I can.»