Paukenschlag im Fall des Ex-Raiffeisen-ChefsVincenz-Urteil aufgehoben: Die Gründe, die nächsten Schritte
Überraschend weist das Zürcher Obergericht die Anklageschrift zurück. Hinzu kommt eine Prozessentschädigung. Was heisst das nun?
Für die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich ist es ein harter Schlag. Wegen Mängeln im Verfahren hob das Zürcher Obergericht das Urteil gegen Pierin Vincenz und den weiteren Beschuldigten in dem Verfahren auf. (Hier finden Sie den Entscheid) Ein Freispruch ist es für die Beschuldigten jedoch nicht. Die Anklage wird an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen. Diese kann erneut Anklage gegen die Beschuldigten erheben. Das bedeutet, dass es erneut zu einem Verfahren gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef und seine Mitangeklagten kommen wird.
Was ist passiert? Am 11. April 2022 wurde Vincenz vom Zürcher Bezirksgericht schuldig gesprochen. Ihm und dem zweiten Hauptangeklagten, dem Geschäftsmann Beat Stocker, wurde von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, sich an Firmen beteiligt zu haben und dann dafür gesorgt zu haben, dass Raiffeisen und der Zahlungsdienstleister Aduno (heute Viseca) die Unternehmen kaufen.
Das Problem dabei: Sie sollen nicht offengelegt haben, dass sie an den Firmen beteiligt waren. In erster Instanz wurde Vincenz dafür wegen gewerbsmässigen Betrugs und ungetreuer Geschäftsbesorgung zu drei Jahren und neun Monaten, Stocker zu vier Jahren verurteilt. Insgesamt waren sieben Personen angeklagt. Eine Person sprach das Zürcher Bezirksgericht frei.
Für die Begründung des erstinstanzlichen Urteils liess sich das Gericht damals neun Monate Zeit. Auf 1200 Seiten legte es Anfang 2023 dar, wieso es ein solch hartes Urteil gefällt hat.
Die Frage nach der Schuld beantwortet das Obergericht nicht
Erheblich weniger Platz, nur gerade 40 Seiten, benötigt nun das Obergericht unter dem Vorsitz von Christian Prinz, um zu begründen, weshalb das Obergericht nun das erstinstanzliche Urteil aufgehoben hat. Interessanterweise folgte das Gericht nicht den Anträgen der Hauptangeklagten Vincenz und Stocker, sondern hiess die von zwei anderen Beschuldigten gut. Insbesondere Stocker hatte Beschwerden wegen fehlender Akteneinsicht und der Befangenheit des Bezirksgerichts geltend gemacht.
Eingegangen ist das Obergericht auch nicht auf inhaltliche Fragen, also ob sich die Beschuldigten tatsächlich des Betruges schuldig gemacht haben, sondern monierte ausschliesslich formale Fehler.
Beispielsweise bei der Anklageschrift. Der Anwalt des mittlerweile verstorbenen Beschuldigten Peter Wüst hatte bereits in der ersten Instanz bemängelt, dass die Anklageschrift mit einem Umfang von 356 Seiten den Anforderungen an eine möglichst kurze, aber genaue Umschreibung des Sachverhaltes nicht genüge. Dem gibt das Obergericht in seiner Begründung recht. Das Schriftstück sei teilweise wiederholend, es finden sich Begründungen darin, welche eher Teil eines anwaltlichen Plädoyers sind und nicht in ein solches Schriftstück gehören.
Zudem sei die Anklageschrift «stellenweise unnötig ausschweifend», wie das Obergericht schreibt. So wird etwa im Fall der Kreditkartenfirma Commtrain Card Solution festgehalten, dass über einen Zeitraum von 25 Monaten hinweg die monatlich erfolgten Bestellungen von Kreditkartengeräten einzeln aufgeführt werden. Unter anderem deswegen wird die Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen, mit dem Auftrag, diese zu verbessern.
«Dass eine Anklageschrift zurückgewiesen wird, kommt immer wieder vor, gerade bei solch komplexen Fällen, wie diesem», sagt Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. Die Schwierigkeit dabei: Eine Anklageschrift muss so detailliert wie möglich und so knapp wie nötig sein – eine ziemliche Gratwanderung in einer Causa wie dieser: «Stehlen Sie jemandem ein Portemonnaie, so ist es sicher einfacher», sagt er. Mit Ausnahme einer zeitlichen Verzögerung habe der heutige Entscheid des Obergerichts aber keine inhaltlichen Auswirkungen auf das Verfahren.
Ebenfalls moniert hat das Obergericht die fehlende Übersetzung der Anklageschrift auf Französisch. Dies machte Stéphane Barbier-Mueller, einer der Beschuldigten, geltend. Damit sei sein Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt worden. Auch wenn laut der Begründung des Gerichts kein Anspruch auf eine vollständige Übersetzung der Anklageschrift besteht, müssen doch zumindest wichtige Akten übersetzt werden. Indem die Hauptverhandlung ohne französische Übersetzung der Anklageschrift stattgefunden hat, wurde «der Anspruch auf rechtliches Gehör» von Barbier-Mueller verletzt, wie das Obergericht schreibt. Hier kritisiert Jositsch das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und dem Gericht: «Um tatsächlich sicherzugehen, hätten sie mehr machen können».
Der Kanton Zürich muss Entschädigungen zahlen
Mit der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils haben die Parteien Anspruch auf eine angemessene Entschädigung. Diese übernimmt in diesem Fall der Kanton Zürich. Das Obergericht spricht demnach dem Ex-Banker und den weiteren im Verfahren Beschuldigten eine Prozessentschädigung zu. Diese umfasst im Wesentlichen die Kosten, welche sie für ihre Anwälte ausgegeben haben. Vincenz erhält 34’698.25 Franken, Stocker 64’620 Franken.
Laut dem Obergericht können sie jedoch nicht auf eine Verjährung der ihnen vorgeworfenen Taten hoffen. Es stützt sich auf die Rechtssprechung des Bundesgerichtes, wonach auch nach der Aufhebung eines Urteils in der ersten Instanz die Verjährung unterbrochen bleibe.
Nun ist erneut die Zürcher Staatsanwaltschaft am Zug. Sie muss die Anklageschrift verbessern, dann kommt es zu einem neuen Prozess vor dem Bezirksgericht. Wann genau dieser stattfindet, ist unklar. Genauso, ob der Fall vor den gleichen Richterinnen und Richtern verhandelt wird oder ob die Beschuldigten in einem solchen Fall eine Befangenheit des Gerichts geltend machen.
Dann müssen sich die Richterinnen und Richter zum zweiten Mal mit der Frage nach der Schuld von Pierin Vincenz und seinen Mitangeklagten beschäftigen. Im nun aufgehobenen Urteil sahen sie diese zweifelsfrei als erwiesen an. In der schriftlichen Begründung sah das Gericht beim ehemaligen Bankmanager «rein finanzielle Motive» als Antrieb für seine Taten.
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