Premiere im OpernhausAthletisch und abwechslungsreich, aber schon etwas angestaubt
Die neue Zürcher Ballettdirektorin präsentiert als Visitenkarte einen programmatisch durchdachten Abend mit drei höchst unterschiedlichen Werken. Neugierig machen vor allem die vielversprechenden neuen Tänzerinnen und Tänzer.
3800 Top-Tänzerinnen und -Tänzer aus aller Welt hatten dem Opernhaus Zürich ihre Bewerbungsdossiers geschickt. Gerade mal 300 wurden zum Vortanzen eingeladen. Und 28 haben es schliesslich geschafft: 19 neue Köpfe vervollständigen die Hauptcompany, 9 junge Talente packen ihre Chance im Junior Ballett. Ensemble und Nachwuchscompany zusammengezählt, umfasst das Zürcher Ballett wie zuvor 50 Bühnentänzerinnen und -tänzer: 25 Frauen und 25 Männer.
Das heisst auch, dass einige Publikumslieblinge – wie üblich beim Wechsel einer künstlerischen Leitung – die Company verlassen haben. Jan Casier, Matthew Knight, Michelle Willems, Rafaelle Queiroz und zehn weitere sind dem früheren Ballettdirektor Christian Spuck ans Staatsballett Berlin gefolgt. Andere, wie die langjährige Solistin Katja Wünsche, die 2012 zusammen mit Spuck aus Stuttgart nach Zürich gekommen war, haben ihre aktive Bühnenkarriere beendet.
Ziel ist eine divers aufgestellte Company
Zur neuen Direktorin kommt also ein zu mehr als der Hälfte neu zusammengestelltes Ensemble, das laut Cathy Marston nicht nur technisch und künstlerisch höchsten Ansprüchen genügen muss, sondern auch aufgeschlossen sein soll gegenüber modernen Tanzsprachen, während es gleichzeitig die klassische Tradition vermitteln und Marstons narrative Tanzsprache in verständliche Geschichten verwandeln soll. Um das alles leisten zu können, brauche es vielfältige und auch sehr unterschiedliche Tänzer, hatte Marston im Vorfeld verlauten lassen: Eine divers aufgestellte Company war und ist ihr Ziel. Das treue Zürcher Ballettpublikum war entsprechend gespannt auf die Premiere ihres ersten Ballettabends «Walkways» am Freitagabend im Opernhaus.
Ob die hohen Ansprüche alle erfüllt werden können, lässt sich nach erst zwei Monaten gemeinsamer Proben und einer Aufführung noch nicht sagen. Dass unter den Tänzerinnen und Tänzern aber gleich einige potenzielle neue Publikumslieblinge zu entdecken sind, darf man durchaus freudig schon feststellen. Der dreiteilige Ballettabend ist denn auch so programmatisch konzipiert, dass nicht nur die gewünschte Stilvielfalt der Company demonstriert wird, sondern auch alle neuen Solistinnen und Solisten und Ensemblemitglieder Gelegenheit haben, sich dem Zürcher Publikum vorzustellen.
Wie an der Bahnhofstrasse
Den Anfang macht Wayne McGregors hochkomplexes Stück «Infra» von 2008. Die Modebewussteren im Publikum wähnen sich bei PKZ an der Bahnhofstrasse. Wie vor dem Zürcher Ladengeschäft spazieren LED-Figuren des britischen Lichtkünstlers Julian Opie auf einem Leuchtband über die Bühne, davor bewegen sich die Tanzenden: Passanten im anonymen Menschenstrom einer Grossstadt. Paare finden zusammen, erst eines, dann zwei – schliesslich sind es sechs, die mit raumgreifenden Bewegungen das Terrain für sich beanspruchen, ihre pulsierenden Körper umeinander schlingen oder sich verlieren im Gewimmel der Masse.
Giulia Tonelli und Esteban Berlanga, seit Jahren in Zürich, bestätigen ihre Virtuosität, sprühend vor Energie stellt sich die neue Erste Solistin Dores André den Zürchern und Zürcherinnen vor, mit viel Sensibilität überzeugt der frühere Principal Dancer aus Birmingham, Brandon Lawrence, und ganz besonders berührt die verletzliche Interpretation der Tänzerin Max Richter, die aus dem Houston Ballet (USA) nach Zürich gefunden hat (aber nicht mit dem gleichnamigen Komponisten, zu dessen atmosphärischer Musik sie hier tanzt, verwandt ist). Zu Marstons postulierter Diversität und ihrem bekanntermassen menschlichen Führungsstil gehört wohl auch, dass zwei Mitglieder des Junior Ballett, Nehandra Péguillan und Juan Sebastian Valdez, ganz vorne mittanzen – und mithalten – können.
Nach der Pause dann die Visitenkarte der neuen Hausherrin von 2018: «Snowblind» nach einem Roman der amerikanischen Autorin Edith Wharton. Eine melancholische Dreiecksgeschichte, die in einem Schneesturm ihr zwar nicht tödliches, aber tragisches Ende findet. Shelby Williams, neu als Solistin in Zürich, beeindruckt als von Leid, Neid und Lieblosigkeit zerfressene Ehefrau, Dores André betört als ihre naiv-verspielte Nebenbuhlerin, und Charles-Louis Yoshiyama bleibt zwischen den beiden Frauenfiguren, zwischen Pflicht und Freiheitsdrang, hin- und hergerissen – elegant, aber noch ohne grosse Profilierungsmöglichkeit.
Zwischen Fitnessstudio und ägyptischer Vase
Zum Abschluss dann Jerome Robbins’ tatsächlich in die Jahre gekommene Choreografie «Glass Pieces» von 1983, ein geometrisches Tanzstück, das den bonbonbunt gekleideten Tänzerinnen und Tänzern höchste Präzision und Geschwindigkeit abverlangt. Robbins, der als Choreograf des Bernstein-Musicals «West Side Story» einst einen Oscar gewann, setzt die zur Entstehungszeit noch revolutionäre Minimal Music des amerikanischen Komponisten Philip Glass ganz direkt in die Körpersprache um, sodass die repetitiven Abläufe einen Hauch von Fitnessstudio über die Bühne wehen lassen. Wer will, erkennt im Mittelteil so etwas wie Humor, wenn Elena Vostrotina und Brandon Lawrence in einem langsamen und technisch anspruchsvollen Pas de deux anmuten, als seien sie Figuren auf einer ägyptischen Vase, die zum Leben erwacht.
Alles in allem gelingt der neuen Ballettdirektorin ein dramaturgisch stringenter und stilistisch abwechslungsreicher Abend, in dem für jeden ein paar Leckerbissen zu finden sind. Ganz so, wie Cathy Marston es sich gewünscht hat. Trotz der ganz unterschiedlichen Tanzsprachen wirkt die Zusammenstellung der bewährten Werke aber noch etwas mutlos, geradezu brav und konservativ. Doch was wäre eine neue Compagnie ohne Entwicklungspotenzial? Zürich darf gespannt bleiben.
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