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Abschied vom Opernhaus-Ballettchef
Christian Spuck – vom Zürcher Riesenerfolg ins Wagnis

Christian Spuck, Ballet-Choreograph und Regisseur am Opernhaus Zürich, in der Probe zum «Nussknacker», 2017.
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«Christian Spuck und das Ballett Zürich – das ist eine Erfolgsgeschichte, wie sie sich jedes Opernhaus nur wünschen kann. Sie ist voll von beglückenden Kunsterlebnissen, einer überwältigenden Begeisterung des Publikums, starker internationaler Wahrnehmung, renommierten Auszeichnungen und Gastspieleinladungen.»

Das tönt etwas hoch gegriffen, stimmt aber aufs Wort. Verfasser dieser Eloge ist Andreas Homoki, Intendant des Zürcher Opernhauses, im Vorwort zum Buch «Spuck»*. Jetzt wechselt der Ballettdirektor als Intendant zum Staatsballett Berlin.

Als Christian Spuck (geboren 1969 in Marburg) zur Spielzeit 2012/13 nach Zürich kam, sah seine Zukunft nicht so rosig aus. «Mir wurde prophezeit, ich würde das Ballett Zürich wohl schon nach einer Spielzeit wieder verlassen müssen», erzählte Spuck beim Abschiedsgespräch mit seinem Dramaturgen Michael Küster bei einer Sonntagsmatinee am 11. Juni. Tatsächlich waren die Prognosen am Anfang pessimistisch: Publikum und Presse galten als verwöhnt durch den genialen Choreografen Heinz Spoerli, der hier 16 Jahre lang Ballettdirektor gewesen war. Und grosse Fussspuren hinterlassen hatte.

Ein Zufall mit Folgen

Es kam anders. Besser. Viel besser. In den vergangenen Jahren waren die Zürcher Ballettaufführungen weit über 90 Prozent ausverkauft. Spuck und seinem exzellenten Ballettensemble gelang es nicht nur, das traditionelle Opernhaus-Premierenpublikum zu begeistern, sondern auch neue, jüngere Kreise hinzuzugewinnen. Immer wieder kam es nach den Premieren zu Standing Ovations.

2012 hatte sich Alexander Pereira, der charmante und geschäftstüchtige Intendant des Opernhauses, als Chef zu den Salzburger Festspielen abgesetzt. Sein Nachfolger Homoki war nicht besonders ballettkundig. Dass er Christian Spuck engagierte, damals Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, war eher Zufall. Ein glücklicher Zufall, wie sich bald zeigte. Heute sind Homoki, der 2025 zurücktritt, und Spuck ein Herz und eine Seele.

Erfolge brachte schon die erste Spielzeit. Spucks Version von «Romeo und Julia» (Sergei Prokofjew) wird bis heute aufgeführt. «Leonce und Lena» nach der Komödie von Georg Büchner, noch in Stuttgart entstanden, erheitert und verblüfft das Publikum immer wieder. In beiden Premieren tanzten Katja Wünsche und William Moore die Hauptrollen – Solistin und Solist, die Spuck aus Stuttgart mitgebrachte hatte. Wünsche blieb bis Ende dieser Spielzeit beim Ballett Zürich, Moore zog sich kurz vorher zurück – beide waren Publikumslieblinge, wurden mit Preisen bedacht und hören jetzt mit Tanzen auf.

Christian Spuck, Ballet-Choreograph und Regisseur im Opernhaus Zürich, 2017.

«Leonce und Lena» blieb nicht das einzige Ballett, dem Spuck ein Drama von Georg Büchner zugrunde legte: Es folgte «Woyzeck» – die Geschichte des geschundenen Soldaten, der aus Eifersucht seine Geliebte tötet. Weitere von Literatur inspirierte Abendfüller: «Anna Karenina» nach dem Ehebruchsroman von Lew Tolstoi, später «Der Sandmann» nach E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung. Sozialkritik und schwarze Romantik in Tanz umgesetzt? Spuck und dem Ballett Zürich gelang es, dafür die stimmige Atmosphäre zu schaffen, in einer Mischung von klassischem und zeitgenössischem Tanz, der oft bei Bildern wie aus frühen Fotografien innehält. Emotion pur, getragen von Musik verschiedener Genres.

Und die klassisch-romantischen Ballette des 19. Jahrhunderts? Vor allem jene zur Originalmusik von Peter I. Tschaikowsky? Wie überall auf der Welt wollte man auch in Zürich nicht darauf verzichten. Für «Schwanensee» wurde Alexei Ratmansky als Choreograf engagiert. Ihm gelang es, die Urfassung von Petipa/Iwanow (1895) weitgehend zu rekonstruieren – eine Arbeit, für die sich Ratmansky inzwischen spezialisiert hat.

Dann setzte Spuck den Weihnachtsknüller «Nussknacker» in einen neuen Rahmen: Ging inhaltlich näher ran an die Novelle «Nussknacker und Mäusekönig» von E.T.A.  Hoffmann, stellte die Musik satzweise um, ohne sie zu beschädigen. Schliesslich «Dornröschen» mit der bösen Fee Carabosse: Ihr wird bei Spuck ein von ihr gehütetes Kinderwagenkind vom Königspaar geraubt. Was den Ablauf der Handlung tänzerisch durcheinanderschüttelt und Carabosse zur tragischen Figur macht.

2016 überraschte Spuck mit einem Experiment, das sich zur festen Form entwickelt hat: dem Musiktheaterballett.

Mit solchen Klassikervarianten steht Spuck beileibe nicht allein da, sie sind auf den heutigen Bühnen gang und gäbe. Prominentes Beispiel dafür ist der schwedische Choreograf Mats Ek mit seiner «Giselle», die er schon 1982 in eine Psychiatrieklinik schickte, und 1996 brachte er in Hamburg sein «Dornröschen» mit dem Drogenmilieu in Verbindung. Eine Choreografie, die 2011 übrigens auch von Heinz Spoerli nach Zürich geholt wurde.

2016 überraschte Christian Spuck mit einem Experiment, das sich inzwischen zur festen Form entwickelt hat: dem Musiktheaterballett. Es begann mit der «Messa da Requiem» von Giuseppe Verdi. Wellenartig schiebt sich der grosse Theaterchor durch den Raum, die vier Gesangssolistinnen und -solisten bewegen sich ebenfalls, während das Ballett in wechselnden Formationen tanzt.

Es folgten ähnliche Arrangements, zuerst «Winterreise» mit einem Sänger – nein, nicht zur Klaviermusik von Franz Schubert, sondern zur verfremdeten Orchesterneufassung von Hans Zender (gespielt von der Philharmonia Zürich). Schliesslich «Monteverdi» mit den herzbezwingenden Madrigalen des frühbarocken Komponisten, begleitet durch das Ensemble La Scintilla. Der Tanz des Balletts Zürich bleibt weitgehend abstrakt, aber nicht seelenlos.

Spucks grosse künstlerische Neugier

Was zeichnet Spucks Ballette aus? Weitreichende Musik- und Literaturkenntnisse, Sinn für theatrale Effekte, Heiterkeit, wenn auch oft mit melancholischem bis schwermütigem Unterton. Als Direktor und Choreograf fördert er die speziellen Talente seiner Tänzerinnen und Tänzer, lässt sie künstlerisch mitreden. Hervorragende Ballettmeister brachten und bringen das Ensemble auf ein Niveau, das jeder noch so anspruchsvollen Gastchoreografie gewachsen ist.

Die Reihe der illustren Gäste reichte von William Forsythe bis Jiri Kylian, von Marco Goecke (ja, der mit der Hundedreckattacke!) bis zu Crystal Pite. Edward Clug («Faust») und Marcos Morau («Nachtträume») konnten mit dem Ballett Zürich sogar Uraufführungen kreieren.

Bezeichnend war und ist Spucks grosse künstlerische Neugier. Manchmal hat sie fast etwas Manisches. Nach einem Erfolg sucht er immer wieder neue Herausforderungen, als könnte er sich sonst zu wohl fühlen. In diesem Sinn kann man auch seinen Wechsel als Intendant zum grossen Berliner Staatsballett interpretieren, das sich nach mehreren gescheiterten Direktionen in Dauerkrise befindet.

*Spuck. Herausgeber Opernhaus Zürich. Redaktion Michael Küster und Claus Spahn. Gestaltung Carole Bolli. Zürich 2023.