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Premiere im Opernhaus
In diese Richtung könnte sich das Zürcher Ballett bald entwickeln

Darstellerische Hingabe: Giulia Tonelli (in Blau) tanzt in «The Cellist» die Titelrolle, Wei Chen (unten) das Cello, Esteban Berlanga (oben) die Rolle des Dirigenten.
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Es ist absolute Hingabe: Eine zentrale Szene im Dokumentarfilm «Becoming Giulia» der Tessiner Filmschaffenden Laura Kaer zeigt, wie Giulia Tonelli, erste Solistin im Zürcher Ballett, zusammen mit der Choreografin Cathy Marston ein Tanzstück erarbeitet. Es beschreibt den Zwiespalt einer Mutter, die versucht, Kind und Karriere miteinander in Einklang zu bringen.

Man spürt die unendliche Hingabe zum Tanz, diesem künstlerischen Spitzensport, der körperliche Ausnahmezustände wie eine Schwangerschaft kaum zu dulden vermag. Und dieselbe unverbrüchliche Hingabe zum Kind, das eine ganz andere, aber mindestens so intensive Liebe fordert wie der Traumberuf.

Mütter werden in traditionellen Balletthäusern aus dem Ensemble entfernt

Sowohl Tonelli als auch Marston kennen Hingabe wie Zwiespalt aus eigener Erfahrung. Beide sind Mütter, so wie überraschend viele Tänzerinnen im Ensemble des Zürcher Balletts, das in dieser Hinsicht den Weg in die Gegenwart bereits vor einiger Zeit eingeschlagen hat. Dies nicht zuletzt auch dank der Aufgeschlossenheit seines scheidenden Direktors Christian Spuck, der Schwangere und Mütter nicht aus dem Ensemble entfernt hat – was in Häusern, die noch gänzlich in der Tradition des klassischen Drills und Körperkults verhaftet sind, durchaus gang und gäbe ist.

Es wirkt natürlich, nimmt die Handlung auch die Perspektive des Cellos ein.

Nicht nur der Film, der am Zurich Film Festival 2022 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, ist derzeit in den Zürcher Kinos zu sehen, auch auf der Bühne kann die Zusammenarbeit von Giulia Tonelli und Cathy Marston jetzt erlebt werden. Mit ihrem Erfolgsstück «The Cellist» gibt die Britin, die im Herbst die Ballettdirektion am Opernhaus übernimmt, ihren Einstand in Zürich.

Tonelli tanzt die Titelrolle. Und wieder geht es um Hingabe. Das knapp abendfüllende Stück – es dauert eine Stunde und fünf Minuten – erzählt die Lebensgeschichte der legendären Cellistin Jacqueline du Pré, die nach einem atemberaubenden Höhenflug als umjubelte Solistin mit erst 28 Jahren an multipler Sklerose erkrankte und ihre Karriere jäh beenden musste. Du Pré war bekannt für ihr leidenschaftliches Spiel, bei dem sie mit ihrem Instrument und der Musik, die sie ihm entlockte, zu verschmelzen schien.

So wirkt es geradezu natürlich, dass das Handlungsballett sich nicht auf die tragische Biografie der Künstlerin beschränkt, sondern immer auch die Perspektive des Cellos (Wei Chen) einnimmt, das den Aufstieg in den Konzertolymp ebenso miterlebt wie den Absturz in die Krankheit, in der es zusammen mit der Musikerin verstummen muss.

Streckenweise geradezu naturalistisch: In Cathy Marstons «Cellist» mimen die Tanzenden mitunter auch Möbel. Links Giulia Tonelli, rechts Wei Chen.

Nicht nur stiltechnisch, auch darstellerisch verlangt das Stück volle Hingabe. Giulia Tonelli verkörpert Jacqueline du Pré, als wäre sie selbst ein Stück Musik – mal schwelgerisch und unbefangen auf dem Höhepunkt des Glücks, dann gebrochen und verzweifelt, weil ihr eigener Körper sie ihrer Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Wei Chen verleiht dem Cello mit Geschmeidigkeit und Eleganz jene Menschlichkeit, die dem Ton des Instruments von jeher zugeschrieben wird, und Esteban Berlanga tanzt den grossen Dirigenten Daniel Barenboim, der die zwei Jahre jüngere Jacqueline im Sturm eroberte und mit ihr von 1967 bis zu ihrem Tod verheiratet war, mit der selbstbewussten Grandezza des gefeierten Genies.

Doch was wäre ein Abend über Jacqueline du Pré ohne das Cello im Orchestergraben? An der Premiere wird es gespielt von Lev Sivkov, der schon seit 2017 der Philharmonia Zürich angehört. Zusammen mit dem Orchester trägt er die von Philip Feeney komponierte Melange aus neuen Tönen und dem bekannten Repertoire von Jacqueline du Pré bis tief in die Herz- und Bauchgegend des Publikums, das die künstlerische Hingabe der Musikerin nahezu körperlich miterleben kann.

Choreografin Marston ist selbst Künstlerin und Mutter

Cathy Marston choreografiert sehr narrativ und streckenweise geradezu naturalistisch. Da mimen die Tanzenden mitunter auch Möbel und Plattenspieler oder eben die Instrumente eines ganzen Orchesters. Der musikalisch und tänzerisch bestechende Abend zeigt, in welche Richtung sich das Zürcher Ballett unter der Leitung der neuen Ballettdirektorin entwickeln könnte: Da ist weniger Düsternis und Melancholie als bei Christian Spuck, weniger Geheimnis wohl auch.

Dafür erwarten uns kraftvolle Erzählungen um starke Frauen und Männer, die vergleichsweise hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Denn in Marstons Interpretation von Geschichten beeindruckt immer auch die Stärke, die sie aus der Hingabe wachsen sieht. Ob diese Hingabe der Kunst oder dem Leben – der Musik, dem Tanz, der Familie oder all dem zugleich – geschenkt wird, mindert nicht die daraus resultierende Kraft. Im Gegenteil. Das hat Marston selbst als Künstlerin, Mutter und selbstbestimmte Zeitgenossin erlebt und bewiesen. Wenn sie diese Erfahrung auch ihren Tänzerinnen und Tänzern vermitteln kann, wird das Zürcher Ballett seinen Weg von der Gegenwart in die Zukunft weitergehen.