Nach Streit mit SohnAbgeführt in Handschellen – wie hart darf die Polizei vorgehen?
Obwohl er keinen Widerstand leistet, wird Jean-Marc Dupuch von Polizeikräften vor der Nachbarschaft in Handschellen abgeführt. Er klagt wegen «Unverhältnismässigkeit». Was erlaubt ist und was nicht.
Am 31. Juli 2023 kommt es zwischen Jean-Marc Dupuch und seinem damals 12-jährigen Sohn zu einer verbalen Auseinandersetzung, wie sie viele Eltern kennen: Der Sohn – am Mittag noch im Pyjama – will gamen, und der alleinerziehende Vater beklagt die exzessive Handynutzung. Doch dann eskaliert die Situation derart, dass die von einer Nachbarin alarmierte Polizei den Vater festnimmt. Der Sohn wird fremdplatziert.
Dokumente von Polizei und Staatsanwaltschaft, die dieser Redaktion vorliegen, beschreiben die Ereignisse. Es ist laut geworden, dann packt der Vater seinen Sohn an den Armen und stösst ihn durch die offene Wohnungstür ins Treppenhaus. Der Junge will wieder rein und boxt den Vater in den Bauch. Dieser stösst ihn nochmals in Richtung Treppe. Der Junge fängt sich auf, stösst sich dabei aber an Ellbogen und Knie. Im Polizeirapport sind «Schürfwunden an Knie und Ellbogen» vermerkt. Der Schädigungsgrad wird als «leicht» taxiert, mit dem Hinweis «keine oder ambulante Behandlung».
Mit den Handschellen beginnen die Probleme
Die Polizei wird um 13.36 Uhr alarmiert und trifft kurze Zeit später vor Ort ein. Gemäss einer Verfügung der Staatsanwaltschaft zeigt sich der Vater Jean-Marc Dupuch gegenüber der Polizei zunächst «sehr offen und freundlich». Er gibt «bereitwillig Auskunft». Aufgrund des Verdachts auf «Tätlichkeiten, versuchte einfache oder schwere Körperverletzung und zwecks weiterer Abklärungen» wird er wenig später «gebunden in einem Polizeifahrzeug» zum Hauptgebäude der Polizei transportiert. Und weil er nach dem Anlegen der «Handfesseln» verstummt und danach einen «leicht apathischen Eindruck» macht, wird er schliesslich fürsorgerisch in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und rund 36 Stunden festgehalten.
Vor der Festnahme führen die uniformierten Polizisten einen Alkoholtest durch. Weil das vor dem Haus in Sichtweite der Nachbarschaft geschieht, fühlt sich Dupuch gedemütigt. Als die Polizei dann auch noch Handschellen anlegen will, protestiert er. Mit Handschellen werde er kein Wort mehr sagen, teilt er den Polizisten mit. Er wird trotzdem in Handschellen abgeführt.
Auf der Station soll ein Polizist auf die Gesprächsverweigerung verärgert reagiert haben. Dann finden Gespräche mit zwei Psychiatern statt. Dort wiederholt Dupuch, dass er aufgrund der Festnahme mit Handschellen keine weitere Aussage mache.
Übernachtung in der Isolationszelle
Abends um 20 Uhr seien ihm die Handschellen abgenommen worden, erzählt Dupuch. Er kommt in die Isolationszelle einer psychiatrischen Klinik. Tags darauf kann er einen Anwalt kontaktieren. Es folgen Gespräche, und am nächsten Morgen darf er die Klinik als freier Mann verlassen. Der Sohn zieht einzelne harte Vorwürfe zurück. Die Staatsanwaltschaft findet nicht genügend Belege dafür, dass Dupuch bewusst eine gravierende Verletzung seines Sohnes in Kauf genommen hat. Sie stellt das Verfahren ein.
Jetzt verklagt Dupuch die Zuger Kantonspolizei wegen unverhältnismässigen Vorgehens. Dass die Polizei bei Hinweisen aus der Nachbarschaft zum Schutz eines Kindes konsequent durchgreift, ist zweifellos richtig. Doch war es auch verhältnismässig, den Vater vor der Nachbarschaft in Handschellen abzuführen?
Immer Handschellen anzulegen, wäre unzulässig
Markus Müller, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern, hat zu diesem Thema ein Buch geschrieben («Verhältnismässigkeit», Stämpfli-Verlag 2023). Müller stellt klar, dass die Polizei verfassungsrechtlich verpflichtet ist, bei einer Festnahme verhältnismässig vorzugehen. Bei allen Festnahmen Personen schematisch in Handschellen abzuführen, wäre damit nicht vereinbar.
Für eine politische Debatte sorgte im vergangenen Jahr der folgende Passus im Luzerner Polizeigesetz: «Bei Transporten ist die Fesselung immer erlaubt.» Laut Müller darf daraus nicht geschlossen werden, dass der Einsatz von Handschellen für Luzerner Polizisten «immer» zulässig ist. Stattdessen sei im Einzelfall zu entscheiden, ob das angemessen sei. Die Formulierung führte auch zu einer politischen Diskussion: Nach einem parlamentarischen Vorstoss hat die Luzerner Polizei den Dienstbefehl für Einsätze dahingehend konkretisiert, dass die Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben muss.
Handschellen bei Gewalt oder Fluchtgefahr
Was im Polizeialltag noch verhältnismässig ist, kann Jonas Weber, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bern, einordnen. «Die Polizei verwendet Handschellen, wenn Hinweise vorliegen, dass eine Person handgreiflich wird, oder wenn Fluchtgefahr besteht», sagt er.
Da die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass Dupuch vor dem Anlegen der Handschellen sehr kooperativ mit der Polizei zusammengearbeitet hat, ist die Frage berechtigt, ob das Vorgehen verhältnismässig gewesen ist.
Der Polizei bleibt stets ein Ermessensspielraum. Es ist daher laut Markus Müller hinzunehmen, dass Polizisten im Eifer des Einsatzes auch einmal falsch entscheiden. Ein Gericht kann aber nachträglich auch zum Schluss kommen, dass das nicht toleriert werden muss, wenn der Fehler bei hinreichender Sorgfalt vermeidbar gewesen wäre.
Schwieriges Verhältnis zum Sohn
Dupuch erhebt eine Reihe weiterer Vorwürfe gegenüber der Polizeibehörde, die das Gericht prüfen muss. Umgekehrt bestätigt er das schwierige Verhältnis zu seinem Sohn. Ein Gutachten, auf das die Staatsanwaltschaft in ihrem Bericht eingeht, beschreibt die Verhaltensauffälligkeiten des Sohns aufgrund der Erbkrankheit Shwachman Diamond Syndrom. Er habe Mühe, mit seinem Umfeld konfliktfrei zu interagieren, von Hyperaktivität ist die Rede. Symptome seien etwa «grobe und unangemessene Sprache» sowie «gewalttätiges Verhalten, insbesondere im Unterricht».
In Dupuchs Wohnung kommt es zu Sachbeschädigungen, wie etwa einer zertrümmerten Glastür oder einem zerschlagenen Fernsehgerät. Der Vater weiss sich nicht anders zu helfen, als den Sohn teilweise für lange Zeit vor die Tür zu stellen. Er tut dies auch, weil eine Fachperson ihm geraten hat, in Krisensituationen den direkten Kontakt mit einer räumlichen Trennung zu vermeiden.
Eine schwierige Beziehung zwischen zwei Personen darf laut Jonas Weber jedoch nicht den Ausschlag geben, dass die Polizei bei einer Festnahme Handschellen anlegt. Die Fesselung wäre korrekt, wenn die Polizei vor Ort von einer Gefährdung durch den Vater ausgehen müsste, sagt Weber. Ohne eine derartige Annahme wären die Handschellen nach seiner Einschätzung «nicht verhältnismässig». Auch interne Richtlinien könnten eine Rolle spielen.
Die Zuger Kantonspolizei teilt mit: Grundsätzlich richteten sich die polizeilichen Massnahmen nach dem Verhalten des Gegenübers. «Verhältnismässigkeit und Sicherheit stehen dabei an erster Stelle.» Wer im vorliegenden Fall recht bekommt, wird ein Gericht entscheiden müssen.
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