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Neue Studie zur Polarisierung
Alle beklagen den Hass und die politische Spaltung – doch wir haben uns lieber als gedacht

Wenn der politische Graben mitten durch die Familie verläuft
Die Mutter ist FDPlerin, die Tochter SPlerin: Bettina Legler (Mutter) und Vanessa Legler (Tochter) sitzen beide in Muris Parlament - jedoch für eine andere Partei.
Foto: Beat Mathys / Tamedia AG.
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In Kürze:
  • Bettina und Vanessa Legler sind einander nah trotz politischer Differenzen.
  • Eine neue Studie zeigt, dass die Schweiz weniger polarisiert ist als angenommen.
  • Die Bevölkerung zeigt sich bei Sozialstaat und Gleichstellung kompromissbereit.
  • Trotz emotionaler Debatten bleibt der Konsens in Grundsatzfragen überwiegend bestehen.

Über gewisse Themen werden sich Bettina Legler und ihre Tochter Vanessa Legler wohl nie einig. Der Genderstern ist so ein Beispiel. Was für die Mutter «eine Verschandelung der Sprache» ist, bedeutet für die Tochter eine Selbstverständlichkeit. 

Es ist nicht die einzige politische Differenz der beiden Lokalpolitikerinnen, die soeben wieder in das Gemeindeparlament von Muri bei Bern gewählt worden sind – die Mutter für die FDP, die Tochter für die SP. Die beiden Frauen stehen politisch auf dem Papier weit auseinander – und sind sich persönlich dennoch sehr nah.

Sie frage sich manchmal, «was habe ich bloss falsch gemacht in der Erziehung?», scherzt Bettina Legler am Telefon. Die 62-Jährige ist gerade mit ihrer 31-jährigen Tochter unterwegs. Diese gibt sofort zurück: Sie denke dafür ab und zu an Parlamentssitzungen: «Ernsthaft, Muetter?»

Vanessa Legler sagt, es erstaune auch sie immer wieder, dass ihre Perspektive so anders sei als die ihrer Mutter – zumal sie sich ja sonst sehr ähnlich seien. «Wir diskutieren vieles aus», sagt die Tochter. Die Mutter ergänzt: «Wenn wir merken, dass wir uns gar nicht näherkommen, dann machen wir eine Pause.» Und manchmal sei einfach «Hopfen und Malz verloren». Dann lasse man die offenen Punkte im Raum stehen. «Es bringt ja nichts, die Meinung der anderen Person zu negieren», sagt Vanessa Legler. 

Die Leglers wollen so gar nicht ins Bild passen, das derzeit in der Öffentlichkeit so häufig gezeichnet wird: dass sich auch in der Schweiz zunehmend zwei unversöhnliche politische Lager gegenüberstehen, die sich gegenseitig ablehnen. Es wird beklagt, dass in den sozialen Medien zunehmend Hass und Intoleranz grassieren. In der Wissenschaft ist immer häufiger die Rede von der sogenannten affektiven Polarisierung: dass die Menschen gegenüber Andersdenkenden negative Gefühle entwickeln und gleichzeitig den Menschen mit den gleichen Meinungen mit viel Sympathie begegnen.

Der Zusammenhalt bröckelt

Nun zeigt eine neue Studie, dass zwar tatsächlich viele Menschen in der Schweiz das Gefühl haben, der gesellschaftliche Zusammenhalt sei schwächer geworden: 70 Prozent der rund 2600 Befragten sahen das so. Die Erhebung der Denkfabrik Pro Futuris und der Mercator-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Bern ist die erste, die die affektive Polarisierung in der Schweiz so detailliert für konkrete politische Themen misst. Gemäss der repräsentativen Befragung sind die Menschen in ihrer Selbstwahrnehmung auch politischer geworden: Rund 43 Prozent gaben an, dass ihr Interesse an der Politik in den letzten fünf Jahren gestiegen ist. 

Gleichzeitig liefert die Studie eben auch Ergebnisse, die ein ganz anderes Bild der Gesellschaft zeichnen: das einer versöhnlichen Schweiz. «Die Schweizer Bevölkerung ist bei einigen Themen kompromissbereiter als oft angenommen», sagt Politökonom und Studienmitautor Ivo Scherrer von Pro Futuris. Das betreffe vor allem die Finanzierung und Ausgestaltung des Sozialstaats und die Gleichstellung von Frauen. 

Scherrer und sein Team haben abgefragt, welche Themen den Menschen wichtig sind. Am häufigsten wurden da der Sozialstaat und die Gleichstellung genannt. Gleichzeitig zeigten sich die Befragten bei genau diesen Themen am wenigsten affektiv polarisiert und überdurchschnittlich kompromissbereit. 

Auch die Lokalpolitikerinnen Bettina und Vanessa Legler gehören unterschiedlichen politischen Polen an – und stehen beide für den Sozialstaat ein. Jede auf ihre Art. «Dass man sich für Schwächere einsetzt, dass man sich für die Gemeinschaft in Vereinen engagiert, all diese Werte habe ich von meiner Mutter mitbekommen», sagt Vanessa Legler. 

Um sich sogleich über die Finanzierungsfrage zu streiten: «Es regt mich auf, wenn die Linken Geld ausgeben, das wir noch gar nicht haben», sagt die Freisinnige Bettina Legler. Und die Sozialdemokratin Vanessa Legler kann nicht verstehen, «wieso man immer alles dem freien Markt überlassen will».

Potenzial für neue Mehrheiten

Die Forscherinnen und Forscher haben für die neue Polarisierungsstudie versucht, die Verteilung der politischen Positionen zu den einzelnen Themen zu berechnen. «Bei der Ausgestaltung des Sozialstaats und bei der Gleichstellung der Frauen sehen wir das Potenzial für neue Reformen und Mehrheiten», sagt Ivo Scherrer. 

Konkret sieht das beim Sozialstaat so aus: Rund 36 Prozent der Befragten wollen den Sozialstaat weiter ausbauen – auch wenn dies höhere Steuern bedeuten würde. Rund 43 Prozent positionierten sich in der Mitte – also weder dafür noch dagegen. Um eine neue Reform zum Sozialausbau durchzubringen, müssten die Befürworter rund ein Drittel der Menschen überzeugen, die sich in der Mitte positionieren. Bei einer Vorlage hingegen, die den Sozialstaat abbaut, müssten die rund 21 Prozent Befürworter über zwei Drittel der Personen in der Mitte auf ihre Seite ziehen.

Für die Sozialausbau-These spricht ein weiteres Resultat der Studie: 57 Prozent der Befragten zählen den Unterschied zwischen Arm und Reich zu den grössten politischen Gräben der Schweiz. Weiter wollten die Forscher von den Menschen wissen, in welchen Bereichen sie sich mehr Verständnis von anderen wünschten. «Für die eigene finanzielle Lage», lautete die meistgenannte Antwort.

Tatsächlich passen mehrere Volksabstimmungen der vergangenen Monate gut ins Bild einer Gesellschaft, die den Sozialstaat hochhält. Die 13. AHV-Rente wurde nicht nur von der Linken, sondern eben auch von einer Mehrheit der SVP-Wähler und fast von der Hälfte aller Mitte-Wähler angenommen. Die Reform der beruflichen Vorsorge, die für gewisse Gruppen Einbussen gebracht hätte und die im September an der Urne scheiterte, fiel selbst bei der Mehrheit der Bürgerlichen durch. 

Eine breite, progressive Mitte

Politikwissenschaftsprofessorin Silja Häusermann hat die neue Studie als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats begleitet. Auch sie sagt: «In der öffentlichen Debatte entsteht schnell der Eindruck eines Rechtsruckes in der Schweiz. Doch fragt man nach konkreten Meinungen zu sachpolitischen Themen, sieht das Bild etwas anders aus. Wir haben auch in der Schweiz eine relativ breite, progressive Mitte.» Die Parteien lägen zwar hierzulande tatsächlich weiter auseinander als in vielen anderen Ländern. Das Wahlverhalten vieler Menschen sei aber getrieben von gesellschaftspolitischen Einstellungen – und nicht von der Sozialpolitik. Mit anderen Worten: Viele wählen die SVP wegen ihrer Migrationspolitik und die SP wegen ihrer Gleichstellungspolitik – und stimmen gemeinsam für eine 13. AHV-Rente. 

Viel weniger vorhersehbar wirken die neuen Studienresultate zur Gleichstellung, weil die aktuellen öffentlichen Debatten sehr kontrovers verlaufen: Gendersterne, geschlechterneutrale Toiletten und selbst Gendertage an Schulen sorgen für heftige Emotionen. 

Die Berner Politologin Rahel Freiburghaus verweist in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse renommierter Deutscher Soziologen um Steffen Mau zu sogenannten Triggerpunkten: «Trotz breit verankerten gesellschaftlichen Werten etwa zum Sozialstaat provozieren solche Trigger manchmal sehr emotionale Debatten – Gendersterne oder gesonderte Öffnungszeiten des Schwimmbads für Transgender sind da nur einige Beispiele», sagt sie. 

Das Genderstern-Gestürm lenkt ab

Bei diesen «Nebenschauplätzen» entstehe dann in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung von grossem Konflikt – gerade auch, weil sogenannte Polarisierungsunternehmer an den Rändern explizit darauf abzielten, die öffentliche Diskussion zu überhitzen. Vor lauter Genderstern-Gestürm gehe also vergessen, wie breit der gesellschaftliche Konsens in den eigentlichen Grundsatzfragen eigentlich sei – etwa die Gleichstellung von Mann und Frau.

Diese ist seit 1981 in der Bundesverfassung verankert und dürfte im Grundsatz tatsächlich mehrheitlich unbestritten sein. Doch die gleichstellungspolitischen Anliegen haben sich weiterentwickelt: Heute geht es um externe Kinderbetreuung, um Vaterschaftsurlaub oder eben um den Genderstern.

Letzteren benutzt FDP-Politikerin Bettina Legler nicht – und trotzdem ist ihr die Gleichstellung wichtig. Sie hat ihre Tochter zu einer selbstbewussten Frau erzogen, für die gleiche Rechte für alle unverhandelbar sind. 

Ihre Art, mit politischen Differenzen umzugehen, stecke vielleicht auch ein bisschen die andern an, sagt Mutter Bettina Leger: «Meine Ratskolleginnen und -kollegen sagen manchmal: Ihr habt so viel Respekt füreinander. Das ist schön!»