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Grosse gesellschaftliche Gräben
So polarisiert ist die Schweiz – ein grafischer Überblick

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Die Abneigung gegen politisch Andersdenkende in der Schweiz scheint zuzunehmen. Wir haben die wichtigsten Daten und Studien zum Megathema in der Politikwissenschaft zusammengetragen.

Die Schweiz ist politisch stark polarisiert

Die Wählenden in der Schweiz positionieren sich immer weiter links und rechts des politischen Spektrums, es zeigt sich eine deutliche Polarisierung über die Zeit. Der Anteil jener, die sich in der Mitte verorten, hat sich zwischen 1995 und 2019 halbiert, wie Daten der Wahlstudie Selects der Universität Lausanne zeigen.

Gemäss der Selects-Studie ist die Polarisierung vor allem darauf zurückzuführen, dass die Wählerschaften der SVP und der FDP bis 2019 stark nach rechts gerutscht sind. In geringerem Masse sind SP- und Grünen-Wähler auch nach links gewandert.

Aber ist denn eine polarisierte Gesellschaft wirklich so schlimm? Solange Menschen nicht entwürdigt und diffamiert würden, seien in einer Demokratie auch emotional geführte Debatten kein Problem, sagt Ivo Scherrer, der bei der Denkfabrik Pro Futuris das Projekt «Lasstunsreden» mitentwickelte, das Menschen mit möglichst unterschiedlichen Meinungen miteinander ins Gespräch bringt.

Gefährlich werde Polarisierung dann, wenn sie sich in der grundlegenden Ablehnung von Menschen äussere, die anders dächten, fühlten und lebten als die eigene Gruppe. «Dann kann aus Ablehnung rasch Überheblichkeit werden und dazu führen, dass wir uns zu einfache Feindbilder zurechtlegen.»

Für ihn gibt es in einer Demokratie drei klare rote Linien, die der Entmenschlichung Vorschub leisten und indirekt zu Gewalt anstiften können:

1. Andere Menschen für sämtliche gesellschaftlichen Probleme verantwortlich zu machen und zu suggerieren, dass alles gut wäre, wenn es Gruppe X nicht gäbe.

2. Andersdenkende als Feinde zu diffamieren, anstatt sie als politische Gegner und Verhandlungspartnerinnen mit legitimen Interessen zu sehen.

3. Demokratische Auseinandersetzungen zu einer Schlacht zu stilisieren.

Das beste Mittel gegen toxische Polarisierung sei, mit Andersdenkenden das Gespräch zu suchen und nachzufragen, welche Erfahrungen sie geprägt haben. «Oft merken wir, dass wir trotz unterschiedlicher politischer Positionen doch mehr gemeinsam haben, als wir denken», so Scherrer.

Die Abneigung gegen Andersdenkende ist in der Schweiz ausgeprägt

Zwei amerikanische Studien (hier und hier) zeigen, dass die affektive Polarisierung in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch ist. Affektive Polarisierung misst den Unterschied zwischen der Sympathie, die wir der eigenen Partei entgegenbringen, und der durchschnittlichen Antipathie, mit der wir allen anderen Parteien begegnen.

Das Schweizer Parteiensystem begünstigt die ausgeprägte affektive Polarisierung, da mit der SVP und der SP die beiden grössten Parteien des Landes an den Polen liegen und sie sich mit viel Missgunst begegnen. Dies ist gemäss Scherrer der aussergewöhnlichen Schweizer Kombination von Proporz- und Konkordanzsystem geschuldet: «In Majorzsystemen haben die grossen Parteien oft einen Anreiz, sich eher zur Mitte zu bewegen, um zu gewinnen und Koalitionen zu bilden.»

So weit wie in den USA, einer tief gespaltenen Nation, ist es in der Schweiz mit der toxischen Streitkultur noch nicht. «In den USA führt das ausgeprägte Majorzsystem in Verbindung mit der starken geographischen Spaltung dazu, dass bei jeder Wahl eine Seite gewinnt und die andere verliert. Somit wird jede Wahl zur existenziellen Gefahr dafür, dass die jeweils andere Seite die Macht übernimmt», sagt Scherrer.

In der Schweiz hingegen seien alle grossen Parteien an der Macht beteiligt, das wirke bis zu einem gewissen Grad entspannend.

Trotzdem sieht der Politökonom auch hierzulande die Tendenz, dass die Kompromissfähigkeit zunehmend leide und das Land in einen Zustand der konstanten Gereiztheit abdrifte, was es erschwere, konstruktive Politik zu machen.

Schweizer Parteien stehen weit rechts und links im europäischen Vergleich

Die SP und die Grünen stehen einer Studie der Universität Zürich nach so weit links und die SVP so weit rechts wie kaum andere vergleichbare Parteien in Europa. Eine Ursache hierfür sieht Scherrer vor allem darin, dass die direkte Demokratie die Parteien im Bundesrat wie auch in den kantonalen und kommunalen Exekutiven zur Zusammenarbeit zwinge. Sie können und müssen ihre extremen Positionen also nicht umsetzen. «Das Schweizer Politiksystem erträgt deshalb relativ viel politische Polarisierung», so der Politökonom.

Gemäss der Politwissenschaftlerin Silja Häusermann hat die frühe Polarisierung in der Schweiz die traditionellen Parteien im linken und im rechten Lager schnell unter Zugzwang gesetzt, ihre Profile zu schärfen. Die neuen sozialen Bewegungen in den 80er-Jahren waren stark in der Schweiz, entsprechend heftig war auch die Gegenreaktion auf der rechten Seite.

Häusermann sagt: «Die Polarisierung hat durchaus auch positive Implikationen, insbesondere was die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger betrifft. Als eher problematisch erweisen sich allerdings mittelfristig die gestiegenen Risiken von Entscheidungsblockaden.»

Alle sprechen sich gegenseitig die Empathie ab

Eine Mehrheit von 77 Prozent der Bevölkerung beklagt, dass das Empathievermögen in der Schweiz eher abnehme, als zunehme, wie das Generationen-Barometer des Forschungsinstituts Sotomo zeigt. Während in der Umfrage insgesamt ein Rückgang des Einfühlungsvermögens wahrgenommen wird, wird einzelnen Gruppen mehr Einfühlungsvermögen nachgesagt als anderen.

So gelten Frauen mit Abstand als die einfühlsamste Bevölkerungsgruppe, am wenigsten Empathie wird den Vermögenden nachgesagt. Und auch Personen aus dem rechten politischen Lager fehlt es laut den Befragten an Einfühlungsvermögen. Wann hören die Befragten selber auf, Mitgefühl zu zeigen? Bei 55 Prozent hört bei politisch extremen Haltungen von Menschen die Empathie auf.

Ob das Einfühlungsvermögen der Bevölkerung tatsächlich sinkt, können die Daten nicht zeigen. Relevant sei aber vielmehr, wie die Bevölkerung die Lage einschätze, sagt Scherrer. «Viele Menschen fühlen sich offensichtlich zu wenig gehört, gesehen und wertgeschätzt.»

Und seit der Pandemie wissen wir auch, dass es um die Konfliktfähigkeit der Schweizer Bevölkerung nicht allzu gut bestellt ist. Im Oktober 2021 gab fast ein Drittel der Erwachsenen an, wegen Meinungsverschiedenheiten rund um die Corona-Massnahmen enge Beziehungen abgebrochen zu haben (9. SRG-Corona-Umfrage).

Viele Schweizer haben Vorurteile gegenüber Minderheiten

In der Schweiz hegt ein grosser Teil der Menschen starke Vorurteile gegenüber Menschen, die als anders taxiert werden. In einer Studie des Bundesamts für Statistik wurde gefragt, wer sich durch Menschen gestört fühlt, die eine andere Hautfarbe haben, einen anderen Glauben ausüben oder eine andere Sprache sprechen. 40 Prozent der Schweizer ohne Migrationshintergrund bejahen diese Frage. Bei Personen, die sich selbst als politisch rechts einstufen, sind es knapp 60 Prozent. Aber selbst bei links Orientierten ist es noch jede fünfte Person (20%).

Ivo Scherrer sagt zu den Daten: «Personen, die sich als rechts einstufen, bringen in der Studie ausländische Personen viel stärker in Verbindung mit Unsicherheit, Missbrauch und Arbeitslosigkeit, als dies Menschen tun, die sich selbst links oder in der Mitte verorten. Das sind Anzeichen für Intoleranz.» Denn Toleranz bedinge, dass wir diejenigen, die wir als anders empfänden, nicht zu Sündenböcken für alle möglichen Probleme machen würden. 

Die Studie zeigt auch, dass viele in der Schweiz negative Vorurteile gegenüber Juden, Musliminnen und schwarz gelesenen Personen mit sich tragen.

Tiefsitzende Vorurteile abzubauen, sei eine schwierige Aufgabe. Dafür brauche es Offenheit und Sensibilisierung. «Und auf jeden Fall sind Medien und Politik in der Pflicht, Ressentiments nicht zu befeuern», so Scherrer.

Verschwörungserzählungen finden in der Schweiz Anklang

Verschwörungsglauben ist in der Schweiz weitverbreitet. Rund 50 Prozent der Bevölkerung haben gemäss einer Studie der Universität Zürich während der Pandemie Verschwörungsaussagen zugestimmt, wonach Corona künstlich geschaffen worden sei, um Macht auszuüben oder sogar um die globale Bevölkerung zu reduzieren. Und gemäss einer Untersuchung der ZHAW von 2022 äussern sich 27 Prozent eher zustimmend zu Verschwörungstheorien. Unter denjenigen, die stark an Verschwörungsmythen glauben, sind junge Menschen mit eher rechter Gesinnung signifikant häufiger vertreten. Aber auch ganz linke Ansichten korrelieren überproportional mit Verschwörungsmentalität.

«Mit jemandem, der wirklich an Verschwörungen glaubt, in einen konstruktiven Dialog zu treten, ist sehr schwer.»

Ivo Scherrer, Politökonom

Aber was hat das mit Polarisierung zu tun? Politökonom Scherrer hält dies für relevant, da sich Verschwörungsglauben sehr einfacher Freund-Feind-Bilder bedient. Es seien geschlossene Erzählungen, die kaum Widerspruch zuliessen und emotional stark aufgeladen seien. «Mit jemandem, der wirklich an Verschwörungen glaubt, in einen konstruktiven Dialog zu treten, ist sehr schwer», so Scherrer. Zudem bestehe die Gefahr, dass Menschen, die stark an Verschwörungen und damit an die Macht düsterer Eliten glaubten, eine Mischung aus Ohnmacht und Zynismus entwickelten und der Demokratie in der Folge den Rücken zukehrten.

Den Dialog abzubrechen oder gar nicht erst zu suchen, ist für Scherrer dann legitim, wenn das Gegenüber entweder anderen Menschen die Würde oder die Legitimität abspricht, ihnen vorwirft, Teil der Verschwörung zu sein, oder grundlegende wissenschaftliche Fakten nicht anerkennt.

Scherrer hält fest, dass Zukunftsängste Verschwörungsglauben befeuerten. In Anbetracht der gegenwärtigen Krisen sei nicht zu erwarten, dass sich alles wieder schnell beruhige. Er fügt an: «Digitale Kanäle haben es für Verschwörungsanhängerinnen und -anhänger einfacher gemacht, Gleichgesinnte zu finden und sich so gegenseitig zu bestärken.»