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Therapie für Flüchtlinge
«Wir haben Kinder, die durch die Hölle gingen»

Bilder von Irene Shtefen und Naser Morina in Naser Morinas Büro im Ambulatorium. 08.03.24

«Wir haben Kinder, die durch die Hölle gingen»

Die Ukrainerin Irene Shtefen hilft in der Schweiz geflüchteten Kindern, ihre Situation zu bewältigen. Die Laientherapeutin ist Teil eines Pilotprojekts des Zürcher Abmulatoriums für Folter- und Kriegsopfer. Es könnte ein Modell sein, um den generellen Mangel an Psychotherapeuten zu entschärfen.
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Am Tag, als die ersten Bomben auf Cherson fielen, packte Iryna Shtefen hektisch das Nötigste zusammen und stieg mit ihrem Mann und ihren vier Katzen ins Auto. «Wir fuhren los ohne Ziel», erzählt sie. Das war im Februar 2022. Einige Monate lebten sie in der Westukraine und flohen schliesslich weiter in die Schweiz nach Kreuzlingen, wo sie nun seit gut anderthalb Jahren leben.

Heute hilft Iryna Shtefen geflüchteten Kindern aus der Ukraine, mit ihren traumatisierenden Erlebnissen und ihren belastenden Situationen im neuen Land zurechtzukommen. «Ich habe viel Unterstützung erfahren und möchte dies an meine Landsleute weitergeben», sagt die 42-Jährige. Sie liess sich schulen und ist nun Teil eines Pilotprojekts des Zürcher Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer (AFK). Unter dem Namen Spirit bietet dieses Flüchtlingen niederschwellige psychologische Hilfe. 

Dabei geht es nicht nur um die rund 65’000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit Schutzstatus S. 135’000 weitere Flüchtlinge in einem laufenden Asylverfahren oder einer vorläufigen Aufnahme könnten künftig ebenfalls profitieren. «Wir wollen unser Angebot rasch ausbauen, um möglichst viele Betroffene zu erreichen», sagt Naser Morina von der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals und Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer (AFK) in Zürich. Derzeit würden rund 100 Laientherapeuten – auch «Helper» genannt – in elf Sprachen Flüchtlinge betreuen. 

Zwei Wochen im Keller bombardiert

Rund die Hälfte aller Geflüchteten in der Schweiz leidet laut Schätzungen an mindestens einer psychischen Erkrankung. Das Kriegsgeschehen, die Flucht, die Trennung von der Familie, aber auch die Anforderungen im Zufluchtsland belasten sie und führen oft zu psychiatrischen Symptomen. Gleichzeitig beträgt die Wartezeit für eine Therapie bis zu einem Jahr. Hinzu kommt, dass die Mehrheit sich gegenüber Ärztinnen und Ärzten sprachlich nicht ausreichend ausdrücken kann. «Unsere schnelle und kostengünstige Intervention verbessert die mentale Gesundheit geflüchteter Menschen», sagt Naser Morina.

Die Versorgungslücke versuchen geschulte Laientherapeuten wie Iryna Shtefen zu überbrücken. Sie betreut aktuell zwei Gruppen mit je rund zehn Kindern und Jugendlichen im Alter von 9 bis 15 Jahren. «Wir haben Kinder, die durch die Hölle gingen», erzählt sie bei einem Treffen.

Zum Beispiel ein 12-jähriges Mädchen, das während anhaltender Bombardements zusammen mit den Eltern zwei Wochen im Keller verbrachte – sie hatten kaum zu essen, zu wenig Wasser und keine richtige Toilette. In der Schweiz diagnostizierten Fachleute bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) mit Symptomen wie sozialem Rückzug, Depression und Flashbacks.

«Zum Glück ist das Mädchen sehr resilient», sagt Shtefen, die in der Ukraine als Englischlehrerin gearbeitet hat. Nach zwei Jahren hat es die Störung ohne professionelle Hilfe weitgehend überwunden. Bei Feuerwerken oder lauten Geräuschen überkommt es immer noch die Angst, und es versteckt sich in einer Ecke. Solche Geschichten kennt Shtefen mehrere. 

Positive Wirkung auf depressive Symptome

Doch nicht alle Kinder sind so widerstandsfähig. «Mindestens 30 Prozent der Kinder bei uns sollten eigentlich in die Psychotherapie gehen», schätzt Iryna Shtefen. Manche Kinder hätten keine direkten Kriegserfahrungen, seien aber trotzdem psychisch stark angeschlagen wegen der ungewissen Situation in der Schweiz und der Angst um den Vater, der vielleicht in den Krieg ziehen müsse. «Unter meinen Landsleuten gibt es keine Familie ohne belastende Probleme, auch wenn sie von sich selbst sagen, dass alles gut sei», sagt Shtefen. 

Das Projekt Spirit wurde vor drei Jahren im Kanton Zürich gestartet, anfangs mit der alleinigen Unterstützung der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz. Derzeit nimmt das Vorhaben an Fahrt auf. Inzwischen sind acht Kantone beteiligt, weitere dürften bald hinzukommen, versichert Naser Morina. «Eine erste Evaluation hat ergeben, dass sich sowohl die Integration als auch die Häufigkeit depressiver Symptome verbessert hat», sagt der Psychologe. 

Über Werbung, Kontaktstellen von Behörden und anderen Einrichtungen oder auch via Social Media wird versucht, Flüchtlinge auf das Angebot aufmerksam zu machen und sie zu motivieren, bei Problemen Hilfe zu suchen. Nicht selten haben die Betroffenen jedoch Vorbehalte gegenüber psychologischer Unterstützung. Das musste auch Iryna Shtefen erfahren. «In der Ukraine hat die Psychiatrie ein schlechtes Image», sagt sie. Die Menschen seien misstrauisch und würden dabei an Methoden aus der Sowjetzeit denken. Auch in anderen Ländern sind psychische Leiden oft stärker tabuisiert als in der Schweiz. 

Eigene Gefühle identifizieren und verstehen

Teilnehmende erhalten in fünf bis sieben Sitzungen Hilfe, um ihre Probleme selbst anzugehen. Es geht um die Bewältigung emotionaler Probleme wie Angst und Depression, aber auch um Hilfe bei ganz praktischen Schwierigkeiten, etwa beim Umgang mit den Behörden.

Bilder von Irene Shtefen und Naser Morina in Naser Morinas Büro im Ambulatorium. 08.03.24

«Wir haben Kinder, die durch die Hölle gingen»

Die Ukrainerin Irene Shtefen hilft in der Schweiz geflüchteten Kindern, ihre Situation zu bewältigen. Die Laientherapeutin ist Teil eines Pilotprojekts des Zürcher Abmulatoriums für Folter- und Kriegsopfer. Es könnte ein Modell sein, um den generellen Mangel an Psychotherapeuten zu entschärfen.

Kinder werden spielerisch angeleitet, ihre Probleme zu bewältigen. Dazu liest Shtefen zum Beispiel die fiktive Geschichte eines Kindes vor, das verschiedene Probleme lösen soll. «Wir diskutieren das dann gemeinsam und lösen kindgerechte Aufgaben», erklärt Iryna Shtefen. Bei anderen Übungen sollen die Kinder und Jugendlichen eigene Gefühle identifizieren und verstehen, wie sie auf den Körper wirken. «Am Ende geht es darum, Strategien zu erlernen, mit denen sich Gefühle positiv beeinflussen lassen», erklärt sie. 

Psychologe Naser Morina hat die Hoffnung, dass sich dank der Intervention viele Psychotherapien vermeiden lassen: «Betroffene bekommen Hilfestellungen, mit denen sie belastende Lebenssituationen ohne professionelle Hilfe selbst bewältigen können.» Ein weiteres Ziel sei auch eine bessere Integration in die Gesellschaft und das Aufbauen eines sozialen Netzwerks, das unterstützen oder auffangen kann. Nicht zuletzt ermöglichen die Kurse, schwere Fälle schneller zu erkennen und zu behandeln. 

«Die Anfangsphase des Projekts war schwierig», sagt Naser Morina. Neben rechtlichen und finanziellen Problemen waren da auch die Vorbehalte von Fachkolleginnen und -kollegen. Sie befürchteten, dass Laien bei Traumatisierten mehr Schaden anrichten als helfen. «Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg machten jedoch klar, wir Fachleute schaffen es nicht allein», so Morina.