Psychiater in ZürichAuch mit 86 denkt er nicht an die Pensionierung
Alexander Moser hält die aktuelle Versorgungskrise in der Psychotherapie für erschreckend. Seinen Beruf liebt er trotzdem, weil er die Lebenssituation von Menschen verbessern kann.
Seit bald 50 Jahren arbeitet der gebürtige Seeländer Alexander Moser als selbstständiger Psychotherapeut mit eigener Praxis in Zürich. Für seine Patientinnen und Patienten ist es ein Glück, dass ihr Psychiater immer noch ein 70-Prozent-Pensum leistet. Denn sie hätten zurzeit grosse Mühe, einen anderen Behandlungsplatz zu finden. In der Schweiz herrscht akuter Mangel sowohl an ärztlichen Psychotherapeutinnen und -therapeuten als auch an solchen mit psychologischer Grundausbildung.
Die Berufswahl traf Moser vor 70 Jahren, als er Schüler am Gymnasium in Biel war. Der Geschichtsunterricht löste bei ihm die grossen Fragen aus. Warum fand jemand wie Adolf Hitler mit seinen monströsen Ideen derart Anklang? Was trieb einen Menschen wie Stalin an, der ebenfalls Millionen von Toten zu verantworten hatte? Wieso wird man ein Ungeheuer der Weltgeschichte? «Ich wollte wissen, wie solche Menschen funktionieren, verstehen, was sie zu solchen Taten antreibt.»
Von da an war Mosers Interesse an der menschlichen Psyche geweckt. Er entschied sich fürs Medizinstudium an der Universität Bern und spezialisierte sich zum Psychiater. Und dies, obwohl er bereits als Gymnasiast zu hören bekam, dass sich die Ausbildung zum Seelenarzt nicht lohne. Denn schon vor 70 Jahren hatten Psychiater das tiefste Einkommen in der Ärzteschaft. Moser brachte das nicht von seiner Berufswahl ab.
Junge können nicht mehr adäquat behandelt werden
Aber er sieht die Arbeitsbedingungen als einen der Gründe, weshalb es in der Schweiz zu wenig Psychiaterinnen und Psychiater gibt. Moser erhält wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen viel mehr Anfragen für eine Behandlung, als er freie Termine hat. Die Menschen, die zu ihm in die Praxis kommen, leiden unter Angst- und Persönlichkeitsstörungen, Depressionen, Suchterkrankungen.
Der akute Mangel an ambulanten wie an stationären Therapieplätzen habe «schreckliche» Folgen, sagt der 86-Jährige. Kürzlich schilderte ihm ein Psychiater, den er als Supervisor betreut, seine Not. Jugendliche, die eigentlich eine stationäre Behandlung benötigten, müssten drei Monate auf einen Platz in der Klinik warten. Dass der Therapeut förmlich mitansehen müsse, dass einer seiner jungen Patienten nicht mehr adäquat behandelt werden könne und in eine schwere Depression schlittere, sei schwer zu ertragen.
«Ich muss nicht magersüchtig sein, um jemanden mit einer Essstörung zu behandeln.»
Moser beschäftigt diese Not, doch sie ist nicht der Grund, warum er auch im hohen Alter noch arbeitet. «Dafür ist mein Beitrag zur Linderung der Notlage viel zu klein. Aber zu erleben, dass ich als Therapeut die Lebenssituation von Menschen verbessern kann, gibt mir eine grosse Befriedigung.» Der Therapienotstand sei vor allem sehr belastend für angehende Therapeutinnen und Therapeuten. Diese fühlten sich im Klinikalltag häufig überfordert. Aus seiner Sicht könnten pensionierte Ärztinnen und Ärzte wichtige Unterstützung bieten. Leider werde dieser Erfahrungsschatz zu wenig angeboten und genutzt.
Keine Spur von Altersmüdigkeit
Alexander Moser ist ein hellwacher Mensch, zeigt keine Spur von Altersmüdigkeit. Obwohl er schon vor 21 Jahren das Rentenalter erreichte, hat er bisher noch nie an Ruhestand gedacht. Seine gute Gesundheit verdanke er wohl den Genen, ein Glücksfall halt, sagt er schmunzelnd. Der Umgang mit Handy und Laptop bereitet ihm keine Mühe. Aber versteht ein 86-jähriger Therapeut Patientinnen und Patienten, die 60 Jahre jünger sind, die sich in Onlinechats und auf Social-Media-Plattformen tummeln, die den Blick in jeder freien Minute auf ihr Handy richten? «Es ist nicht notwendig, dass sich die Lebenssituationen von Therapeuten und Patienten gleichen», sagt Moser. «Ich muss nicht magersüchtig sein, um jemanden mit einer Essstörung zu behandeln.» Der Generationenunterschied könne sich sogar als Vorteil erweisen. Junge Menschen fühlten sich von ihren Grosseltern oft besser verstanden als von der Generation ihrer Eltern oder von Gleichaltrigen.
Es gebe heute nicht wesentlich mehr schwere psychische Störungen als früher, sagt Moser. Hingegen stellt er bei leichten bis mittelschweren Leiden eine Zunahme fest. Die Ursachen sieht er im gestiegenen gesellschaftlichen Druck, überall und immer genügen zu müssen. Viele seiner Patientinnen und Patienten litten unter fehlender Anerkennung, vor allem am Arbeitsplatz.
«Die tägliche Enttäuschung, nicht wahrgenommen zu werden, ist für viele schwer zu ertragen.» Zudem könnten sie sich nicht genügend abgrenzen. Besonders schwer falle die Distanzierung in den sozialen Medien. Dazu komme die Perspektivlosigkeit angesichts erdrückender globaler Krisen wie Klimaerwärmung und Kriegen, die im schlimmsten Fall zur Zerstörung der ganzen Welt führen könnten.
Eine Wohnung in der Klinik
Seine erste Assistenzstelle erhielt Moser 1962 an der psychiatrischen Klinik Waldau in Bern. Später lebte er mit seiner Frau und den zwei Kindern sogar Tür an Tür mit Patienten. Als Oberarzt in Lausanne hatte er eine Wohnung in der psychiatrischen Uniklinik. Für die Kinder sei der Umgang mit psychisch Erkrankten alltäglich gewesen.
Bereits früh gewann Alexander Moser die Erkenntnis, dass der Übergang von sogenannt normalem Verhalten zur krankhaften Störung fliessend ist. «Gemütszustände oder Verhalten, die wir als krank diagnostizieren, sind in moderater Ausprägung auch bei den Gesunden vorhanden.»
Moser kommt aus der Schule der Psychoanalyse, die stark auf Ursachenforschung setzt, die Lebensgeschichte und Lebenssituation der Patientinnen und Patienten intensiv ausleuchtet. Dominierend sei heute jedoch eine medizinalisierte Psychiatrie, der er kritisch gegenüberstehe. Die rasche Linderung der Symptome stehe heute im Vordergrund, wozu manchmal allzu rasch Medikamente verschrieben würden.
Es gelte im Leben ein Gleichgewicht zwischen schwierigen Erfahrungen und den positiven Möglichkeiten des Lebens zu finden. Dazu müsse man sich an kleinen Dingen freuen können wie am blühenden Baum gleich um die Hausecke. Alexander Moser findet sein Gleichgewicht bei Spaziergängen, Wanderungen und auf seinem kleinen Segelboot. «Ein Nachmittag auf dem ruhigen Obersee hat für mich den gleichen Erholungswert wie zwei Wochen Ferien am Meer.»
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