Psychotherapie auf der Kippe 10’000 Patienten droht der Therapieabbruch
Schon ab Januar wollen Krankenkassen die Behandlung nicht mehr bezahlen, wenn sie von Psychologen in Weiterbildung ausgeführt wird. Glück haben Versicherte von vier Kassen.
«Ich war in den 60 Jahren meiner Berufszeit noch nie mit einer derart unhaltbaren Situation konfrontiert», sagt der Zürcher Psychiater Alexander Moser. Für Psychologinnen und Psychologen mit anerkannter Therapieausbildung ging Mitte Jahr zwar ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Sie sind nun zur Grundversicherung zugelassen, sofern die Behandlung auf ärztliche Anordnung erfolgt (Anordnungsmodell). Zuvor übernahmen die Krankenkassen die Kosten nur, wenn die Psychotherapeuten im Anstellungsverhältnis mit einer Ärztin oder einem Arzt arbeiteten (Delegationsmodell).
Doch ausgerechnet jetzt, wo die Psychologinnen und Psychologen den Mangel an Therapieplätzen entschärfen könnten, verweigert ein Teil der Grundversicherer die Bezahlung für rund 1500 von ihnen. Es handelt sich um jene Therapeutinnen und Therapeuten, die ihre Weiterbildung noch nicht abgeschlossen haben, aber zur Erlangung klinischer Erfahrung bereits praktizieren. Über 10’000 Patientinnen und Patienten könnten deshalb ab Januar ohne Therapieplatz dastehen, schätzt die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP).
L.B. (Name der Redaktion bekannt) aus St. Gallen ist bei einer angehenden Psychotherapeutin in Behandlung und hat kürzlich vom Therapieabbruch auf Ende Dezember erfahren. Die 25-jährige Frau ist seit einem Jahr in Behandlung wegen einer Überlastungsstörung und Depressionen. Bisher ging sie einmal pro Woche zur Therapie. Nun sei sie wieder auf sich allein gestellt und habe Angst, dass sich die Krise zurückmelde. «Meine grosse Befürchtung ist, dass ich keinen neuen Therapieplatz finde.» Bisher habe sie nur Absagen bekommen, alle angefragten Therapeutinnen seien ausgebucht. Zudem sei sie darauf angewiesen, dass die Therapie von der Krankenkasse bezahlt werde.
Die Hälfte der Bevölkerung bei Santésuisse versichert
Der Zürcher Psychiater Alexander Moser ist längst im Pensionsalter, betreut aber als Supervisor immer noch Psychologinnen in Weiterbildung. «Eine hat mir kürzlich mitgeteilt, dass sie mehrere Dutzend Patientinnen und Patienten über den Therapieabbruch auf Ende Jahr informieren musste. Die Psychologin war selbst am Rande eines Zusammenbruchs», sagt Moser. Denn einerseits sei nun ihre Weiterbildung zur Psychotherapeutin gefährdet, und andererseits sorge sie sich um ihre Patienten.
Moser weiss aus seiner jahrzehntelangen Berufserfahrung, wie schwerwiegend Therapieabbrüche sein können. «Bei meinen Patienten kam es nur schon zu Krisensituationen, weil ich in den Ferien war und es mit der Stellvertretung nicht geklappt hat. Therapieabbrüche können zu depressiven Reaktionen, psychotischen Zusammenbrüchen bis zu Suiziden führen, insbesondere bei Jugendlichen», warnt Moser. Es sei unmöglich, dass in der derzeit angespannten Versorgungslage für Psychotherapien Tausende von Patientinnen und Patienten einen neuen Therapieplatz fänden.
«Therapieabbrüche können zu depressiven Reaktionen, psychotischen Zusammenbrüchen bis zu Suiziden führen, insbesondere bei Jugendlichen.»
Es sind Kassen des Verbandes Santésuisse, bei denen rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung versichert ist, die Therapien ab 2023 nicht mehr bezahlen. Santésuisse begründet dies mit der fehlenden gesetzlichen Grundlage, um die Therapieleistungen von Personen in Weiterbildung zu vergüten. Bisher sei der delegierende Arzt der Leistungserbringer gewesen, der die Therapien der Auszubildenden mit den Kassen habe abrechnen können. Doch diese Regelung gelte ab 2023 nicht mehr.
Santésuisse schlug deshalb vor, das alte Delegationsmodell um ein Jahr zu verlängern, doch dies ist unter anderem am Widerstand der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) gescheitert. «Für uns ist dies unverständlich», sagt Santésuisse-Sprecher Matthias Müller. Die Verlängerung hätte die Möglichkeit gegeben, eine Lösung zu finden. Dazu sei Santésuisse auch weiterhin bereit. «Denn Therapieabbrüche sind nicht im Sinn der Krankenversicherer.»
Kliniken ebenfalls betroffen
Nach Ansicht der FSP liegt die Schuld bei den Krankenversicherern. Die gesetzliche Regelung sei ausreichend, sagt Sprecherin Cathy Maret. Sie verweist auf ein Schreiben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) von Anfang Dezember. Darin steht, dass jene, die Personen in Weiterbildung bei ihrer Therapiearbeit beaufsichtigen, als Leistungserbringer gelten. Für die FSP ist deshalb klar, dass diese Aufsichtspersonen mit den Kassen abrechnen können. Obwohl für die FSP die Rechtslage eindeutig ist, fordert die Organisation das BAG auf, die Kostenübernahme für Personen in Weiterbildung rasch explizit in einer Verordnung zu regeln.
«Die Weigerung der Krankenversicherer gefährdet die Weiterbildung und die Versorgung der Patientinnen und Patienten», sagt Maret. Betroffen seien rund 1500 Psychologinnen und Psychologen in Weiterbildung sowie über 10’000 Patientinnen und Patienten. Für die in Praxen beschäftigten Therapeutinnen und Therapeuten sei die Weiterarbeit ohne Vergütung der Kosten unmöglich, ausser sie würden gratis arbeiten. Grosse Kliniken könnten unter Umständen einige Monate die ungedeckten Kosten anderweitig auffangen.
Zwischen 30 und 50 Prozent der Psychologen, welche in psychologischen Spitalambulatorien arbeiteten, befänden sich in Weiterbildung.
Die Weigerung von Santésuisse-Kassen, Therapien von Personen in Weiterbildung zu zahlen, trifft auch die Kliniken. «Ohne die Vergütung durch die Krankenkassen wird die Versorgung der betroffenen Patienten innert Kürze nicht mehr möglich sein», warnt Dorit Djelid vom Spitalverband H+. Zwischen 30 und 50 Prozent der Psychologen, welche in psychologischen Spitalambulatorien arbeiteten, befänden sich in Weiterbildung. Die Ambulatorien seien auf die Fachpersonen in Weiterbildung angewiesen. «Wenn die Finanzierung dieser Leistungen nicht mehr gewährleistet ist, können die Spitäler und Kliniken ihre Leistungen nicht mehr erbringen und die Personen auch nicht mehr weiterbilden.»
Auch der Spitalverband hält die Weigerung der Kassen für unbegründet. Der Bundesrat habe mehrfach auf parlamentarische Vorstösse hin klargestellt, dass Fachpersonen in Weiterbildung die Leistungen über die psychologischen Psychotherapeutinnen oder -therapeuten abrechnen könnten, welche mit der Beaufsichtigung betraut seien.
Helsana, Sanitas, KPT und CSS bezahlen
Glück haben jene, die bei Helsana, KPT und Sanitas versichert sind. Diese Kassen haben mit den Verbänden der psychologischen Psychotherapie und dem Spitalverband H+ einen Tarifvertrag abgeschlossen, der Therapien durch Personen in Weiterbildung einschliesst. Eine Ausnahme macht auch die CSS. Die Kasse hält zwar die Rechtslage für unklar. Doch die CSS werde Therapieleistungen von Personen in Weiterbildung unter Vorbehalt weiter übernehmen, teilt die Kasse mit.
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