Analyse zu psychischen ProblemenWas läuft bei den Mädchen und jungen Frauen schief?
Jungs kommen mit psychischen Belastungen offenbar viel besser klar als Mädchen – darauf deuten neue Zahlen hin. Stossend ist, dass man aber immer noch nach Ursachen sucht.
Das muss man sich mal vor Augen halten: Vergangenes Jahr mussten 458 Mädchen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren hospitalisiert werden, weil sie sich selbst verletzt oder einen Suizidversuch begangen hatten – 60 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das ist besorgniserregend, aber nicht wirklich überraschend.
Zwar sprach das Bundesamt für Statistik von einer «beispiellosen Zunahme», als es am Montag die neusten Zahlen zu psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen veröffentlichte. Aber Expertinnen und Experten weisen schon lange darauf hin, dass die Pandemie bei jungen Menschen überproportional viel Schaden angerichtet hat.
Elfmal häufiger wegen Selbstverletzung im Spital
Eine Sache ist jedoch überraschend: Junge Frauen scheinen um ein Vielfaches stärker betroffen als gleichaltrige Jungs. Elfmal mehr 10- bis 14-jährige Mädchen als Buben wurden wegen Suizidversuchen und Selbstverletzungen hospitalisiert.
Elfmal. Das ist ein extremer Unterschied. Auch bei Depressionen, neurotischen Störungen, die mit Stress einhergehen, sowie bei Persönlichkeits- und Essstörungen ist der Anstieg bei jungen Frauen deutlich höher als bei jungen Männern. Zwar zeigten Letztere 2021 auch häufiger affektive Störungen, also etwa Depressionen, aber die Anstiegskurve ist deutlich flacher.
Grosse Ratlosigkeit
Man könnte meinen, es gäbe schon zig Erklärungen und vor allem Lösungsansätze. Aber da ist erst mal eine grosse Ratlosigkeit. Das war schon so, als im Oktober die neuen Suizidzahlen veröffentlicht wurden, die zeigten, dass sich in der Schweiz immer weniger Menschen das Leben nehmen – mit einer grossen Ausnahme: Bei den unter 20-jährigen Frauen steigt die Suizidrate. Man nehme die Sache sehr ernst, hiess es da. Oder: Man sei dabei, die Erklärungsansätze so genau wie möglich zu identifizieren.
Im Gegensatz zu den mannigfaltigen Mutmassungen in den Kommentarspalten – als mögliche Ursachen werden etwa die Leistungs- oder Überflussgesellschaft, eine Covid-19-Infektion, Helikoptereltern, die digitalen Medien, all die negativen Nachrichten oder auch der Feminismus ausgemacht – gibt es von fachlicher Seite bislang nur Vermutungen, warum junge Männer anscheinend besser mit widrigen Umständen zurechtkommen.
Hilft Gamen gegen Depressionen?
Eine Theorie ist, dass sie sich auf eine gesündere Weise von äusseren Widrigkeiten ablenken als junge Frauen – mit Gamen. Ausgerechnet Computerspiele, die immer wieder verteufelt werden, etwa, weil sie angeblich aggressives Verhalten fördern, könnten also positiv für die psychische Gesundheit sein.
Die Mädchen lenken sich weniger mit Gamen, dafür häufiger mit Tiktok, Instagram und anderen sozialen Medien ab. Das Problem ist, dass sie dort oftmals nicht eine Entspannung finden, sondern noch mehr Druck. Weil sie sich dort möglichst perfekt präsentieren wollen, aber nicht mit der gefilterten Scheinwelt mithalten können, fühlen sie sich nur noch deprimierter, wie Expertinnen festhalten.
Bilden sich Jugendliche alles nur ein?
Oder ist womöglich alles gar nicht so schlimm? Das jedenfalls meint der New Yorker Traumaexperte George Bonanno. Entgegen dem, was gern behauptet werde, sei die Pandemie mitnichten «traumatisierend» gewesen. Die «New York Times» stellte die These in den Raum, dass viele Jugendliche wegen der Omnipräsenz von psychischen Krankheiten auf sozialen Medien überhaupt erst auf die Idee kämen, an einer psychischen Störung zu leiden, und diese kurzerhand imitierten.
So oder so: Die stark gestiegenen Suizidversuche sind ein Fakt und die sozialen Medien unbestritten ein grosses Problem. Da verwundert es, dass man immer noch nach Gründen sucht, statt im grossen Stil Gegenwehr zu geben. Es braucht viel mehr Aufklärung und wirksamere Schutzmechanismen zum Wohl der jungen User.
Fehler gefunden?Jetzt melden.