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Physio-Branche in der Krise
18 Monate nach dem Abschluss begann sie ein Jus-Studium

Mit spezieller Physiotherapie ein kuenstliches Hueft- oder Kniegelenk hinauszoegern oder gar vermeiden: In der Schweiz etabliert sich eine neuartige Therapie aus Daenemark. Augenschein in einem Patientenkurs am Spital Emmental am 18. August 2020 in Langnau i.E.. Foto: Nicole Philipp/Tamedia AG
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Die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) geplante Tarif-Senkung für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten stösst bei den Betroffenen auf Widerstand. Im Studium erlebt Nicole Lutz, Dozentin am Bachelor-Studiengang Physiotherapie an der Berner Fachhochschule, ihre Studierenden als «sehr engagiert. Sie setzen sich bereits in ihren Praktika sehr für die Patientinnen und Patienten ein, welche dies auch mit Wertschätzung erwidern», sagt sie. Nach wie vor würden sich viele für den Studiengang interessieren.

Dennoch: Bereits bei den heutigen Tarifen würden viele junge Leute während oder kurz nach dem Studium beruflich umsatteln, sagt Regula Steinlin Egli, die an der Universität Basel in der Weiterbildung für Physiotherapie unterrichtet. Zu wenig lukrativ sei der Beruf für junge Leute.

Neben den Tarifen ist auch der kurze Spitalaufenthalt ein Thema. Patientinnen und Patienten werden früher aus dem Spital entlassen, erklärt Lutz. «Sie müssen aufwendiger betreut werden, intensivere Absprachen mit weiteren Gesundheitsfachpersonen und Angehörigen sind nötig, und die Komplexität der Behandlungen steigt.» Das brauche Zeit; diese werde aber nicht entschädigt.

Jus-Studium statt Physio-Weiterbildung

Nadine Grob hat ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin 2017 abgeschlossen. Eineinhalb Jahre danach hat sie begonnen, Jura zu studieren. «Physiotherapie ist ein körperlich sehr anstrengender Beruf, und ich habe Probleme mit den Handgelenken, deshalb musste ich sowieso über Alternativen nachdenken. Ich wusste, ich kann diesen Job nicht bis 65 machen», sagt Grob.

Sie habe sich aber zunächst im Bereich Physiotherapie weiterbilden wollen. «Ich habe die Möglichkeit nach Weiterbildungen analysiert – beispielsweise um zu unterrichten oder um den Master zu machen. Das war extrem teuer.»

Nadine Grob arbeitet während ihres Jus-Studiums als Physiotherapeutin weiter.

Ein zweites Studium war lukrativer. «Wenn ich eine Weiterbildung gemacht hätte, hätte ich 40'000 Franken in die Hand genommen, hätte aber als angestellte Physiotherapeutin den gleichen Lohn wie zuvor», erklärt Grob. «Es ist für Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten leider nicht lukrativ, besser zu werden und sich weiterzuentwickeln. Und wenn es so weitergeht, wird der Beruf noch unattraktiver.»

Die 29-Jährige arbeitet derzeit noch als Physiotherapeutin und hat gerade ihren Jus-Bachelor abgeschlossen. «Nach der Ausbildung kann ich so schnell einen Job finden, in dem ich mehr verdiene. Gerade in der Situation, in der wir Physiotherapeuten jetzt sind, bin ich froh um mein zweites Standbein und die Möglichkeit, in eine andere Branche auszuweichen.»

Nach zwei Jahren «völlig aus dem Physio-Bereich»

David Taylor hat sein Physiotherapie-Studium 2017 in Basel angefangen. Nach seinem Abschluss im Jahr 2021 arbeitete der heute 29-Jährige im Physiozentrum in Bern, bis er Ende August kündigte.

Im Oktober beginnt er in Deutschland einen Masterstudiengang MBA in Health Care Management, seit September arbeitet er bei der CSL Behring im Dokumentenmanagement. «Ich bin jetzt völlig aus dem Physio-Bereich raus», sagt David Taylor.

Hat die Arbeit als Physiotherapeut nach zwei Jahren komplett hinter sich gelassen.

Das habe mehrere Gründe. «Da sind einerseits die Arbeitsbedingungen. Man weiss im Vorfeld, dass der Lohn nicht der beste ist. Niemand wird Physiotherapeut, um reich zu werden», sagt Taylor. «Aber die Summe aller Dinge ist dann entscheidend. Den ganzen Tag reiht sich Patient an Patient, dann sind da die Arbeitszeiten … Bei meinem jetzigen Job habe ich kürzere Arbeitstage, mehr Ferien und mehr Lohn.»

Weiter würden die Entwicklungsmöglichkeiten im Physiotherapie-Bereich fehlen. «Man kann dozieren oder eine Praxis oder ein Team leiten. Viele andere Möglichkeiten gibt es nicht. Das ist latent frustrierend.» Würde er dennoch einen Master machen, würde das finanziell nicht viel ändern. «Man muss sich fragen, ob sich die zwei Jahre Aufwand überhaupt lohnen.»

Sechs Monate keine Antwort auf Stellenanzeige

Martina Hasler, Kinderphysiotherapeutin und Praxiseigentümerin der Therapiestelle in Laufen, hat seit sechs Monaten eine Stelle auf verschiedenen Portalen ausgeschrieben. Bisher habe sich keine einzige Person darauf gemeldet. Es sei zwar noch nie einfach gewesen, qualifizierte Physiotherapeutinnen mit Zusatzausbildungen zu finden. Die aktuelle Situation sei jedoch besorgniserregend, und nur mit viel Glück und guten Beziehungen habe sie doch noch eine Lösung gefunden. «Es stellt sich die Frage, ob wir in Zukunft noch Physiotherapeuten haben, die unsere Praxen weiterführen und die Patientenversorgung sicherstellen», sagt Hasler.

In der Hoffnung, mit der Arbeit an einem universitären Zentrum ein etwas besseres Einkommen in Lehre und Forschung zu finden, würden junge Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten häufig Masterdiplome anstreben. «Sie bleiben dann dort angebunden und fehlen in den Praxen.»

Sie kenne keine einzige Praxis, die keine Probleme habe, ihre Stellen zu besetzen, sagt Praxiseigentümerin Martina Hasler.

Auch Hasler betont: Zusatzausbildungen und Weiterbildungen seien sehr teuer, würden aber nie lohnrelevant. «Der Weg zur Kinderphysio hat mich zusammen mit Lohnausfall mehr als 50’000 Franken gekostet, ich habe aber dafür keinen Rappen mehr erhalten.»

Es sei sehr schwierig geworden, als Physiotherapeutin oder Physiotherapeut eine Familie zu ernähren. «Für den Stundenlohnansatz der Physiotherapeuten würden heute weder Handwerker noch Krankenkassenmitarbeiter mit vergleichbarer Ausbildung einen Finger krumm machen», sagt Hasler. «Ich kenne keine einzige Praxis, die keine Probleme hat, ihre Stellen zu besetzen.» Viele Praxen würden unzählige unbezahlte Stunden aufwenden, um weniger qualifizierte Fachkräfte mit ausländischen Diplomen oder junge Mitarbeitende in internen Weiterbildungen zusätzlich auszubilden, um eine gute Behandlungsqualität zu gewährleisten.

Der Vorschlag des BAG wäre laut Hasler «definitiv kein Fortschritt, sondern eine zusätzliche und existenzielle Bedrohung für unseren Berufsstand». Zuerst müsse über die Erhöhung des Taxpunktwertes gesprochen werden. «Und darüber, dass auch zumindest ein Teil der vielen Arbeit, die nicht in Anwesenheit des Patienten gemacht werden kann, aber für die Qualität unserer Arbeit unabdingbar ist, entlöhnt wird.» Dazu gehören etwa das Lesen und Verfassen von Patienten- und Verlaufsdokumentationen, Absprachen mit Ärzten und anderen Therapeuten oder die Instruktion von Angehörigen.