Temporärkräfte müssen gehenHeimlicher Stellenabbau in der Schweizer Pharmabranche
Nur der Bau beschäftigt noch mehr Temporärpersonal als die Pharmaindustrie. Diese senkt nun ihre «Überkapazitäten» aus der Pandemie deutlich.

Der Unterschied springt ins Auge: Zwar erbringt die Pharmaindustrie fast 10 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Die Zahl der Arbeitsplätze fällt dagegen niedrig aus: Die Branche bringt es auf nur 47’800 Vollzeitstellen oder 1,1 Prozent der Schweizer Jobs.
Um die geringe Bedeutung der wichtigsten Schweizer Industrie für den Arbeitsmarkt zu kaschieren, hebt der Branchenverband Interpharma stets hervor, dass die Pharmaindustrie für mehr als 200’000 Arbeitsplätze in anderen Branchen sorge.
Was er jedoch nicht erwähnt und was nicht ins Bild der soliden Industrie passt: Die Pharma- und Chemiebranche beschäftigt so viele Leiharbeiterinnen und -arbeiter wie kaum eine andere. Nur in der Bauindustrie arbeiten mehr.
Jede 20. Arbeitskraft ist eine externe
«Eine vorsichtige Schätzung von uns zeigt, dass rund 2500 Vollzeitäquivalente an Temporärkräften in der Pharmabranche tätig sind», sagt Marius Osterfeld, Leiter Ökonomie und Politik beim Verband der Personaldienstleister Swissstaffing. Rund jeder zwanzigste Arbeitnehmende in der Pharmaindustrie ist formell bei einer Leiharbeitsfirma angestellt.
Das macht einen heimlichen Stellenabbau einfach, und darin besteht der grosse Vorteil dieser Anstellungsform. Denn wenn eine Firma Temporärkräfte nicht mehr beschäftigt, macht sie das in der Regel nicht öffentlich. Und es braucht keinen Sozialplan und keine Konsultation der Personalkommission.
Das zeigt sich derzeit, denn mehrere Unternehmen der Branche bauen ihre Temporärkräfte ab. In den letzten Monaten sehe er bei seinen grösseren Pharmakunden einen Rückgang der Zahl der Temporärmitarbeitenden, sagt Stéphane Miras von der Gi Group Switzerland, einem grossen Personalvermittler. Zu diesem gehört unter anderem der auf die Pharma- und Chemiebranche spezialisierte Vermittler Kelly Services.
Zurück auf Vor-Covid-Niveau
Während der Pandemie hatten die Firmen ihre Temporärkräfte ausgebaut, wie Miras erklärt. «Die Überkapazitäten in der Produktion werden nun auf Vor-Covid-Niveau gesenkt.» Allein im vierten Quartal 2023 sei die Zahl der von der Gi Group Switzerland an grosse, weltweit tätige Pharmakonzerne ausgeliehenen Beschäftigten um 7,2 Prozent gesunken.
Pharmajobs gelten zwar als sicher, aber das stimmt nicht: Die Industrie ist nicht frei von Zyklen. Produktion sowie Forschung und Entwicklung kommen in Wellen, sodass die Zahl der Arbeitskräfte in der Pharmaindustrie stets schwankt. Roche etwa nutzt Temporärkräfte, um Schwankungen auszugleichen. Und auch, um zeitlich befristet auf spezifisches Fachwissen zurückgreifen zu können.

Novartis beschäftigt ebenfalls Leiharbeiterinnen und -arbeiter. «Wir setzen einen gesunden Mix von Festangestellten und externen Arbeitskräften ein, um den teilweise schwankenden Kapazitätsbedarf zu decken», sagt Sprecher Satoshi Sugimoto.
Die saisonal steigende oder sinkende Nachfrage nach Antibiotika oder Erkältungsmitteln fängt auch Sandoz in seinen Produktionswerken in Europa durch Leiharbeitende auf, wie ein Sprecher sagt. (Lesen Sie das Interview mit Sandoz-Chef Richard Saynor.)
Bruttostundenlohn von 100 Franken und mehr
Was dabei auffällt, sind die hohen Gehälter: Nirgends arbeiten mehr Hochqualifizierte als Temporärkräfte. Bei einem Job in der Pharmabranche verdienen sie bei bestimmten spezialisierten Profilen einen Bruttostundenlohn von 100 Franken oder mehr.
Die Temporärgehälter können dabei über denjenigen der Angestellten liegen, die einen regulären Arbeitsvertrag der Pharmafirmen haben. Der mittlere Monatslohn in der Branche beträgt 10’040 Franken, so die jüngsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik von 2020. Das heisst, die Hälfte der Angestellten liegt unter dieser Summe, die andere darüber.
Für die Pharmaindustrie sind Leiharbeitende deshalb nicht unbedingt günstiger. «In den meisten Fällen sind sie für das Unternehmen teurer, wenn man die Gebühren für die Dienstleistungen des Personalvermittlers zum Gehalt hinzurechnet», sagt Stéphane Miras von der Gi Group.
«In vielen Fällen zahlen wir tatsächlich mehr als für Festangestellte, da wir über spezialisierte Agenturen arbeiten müssen», heisst es bei Sandoz.
Bürojobs landen in Niedriglohnländern
Einen Spareffekt kann es dennoch geben, wie Marius Osterfeld vom Verband Swissstaffing hervorhebt. Denn die Firmen sparen eigenes Rekrutierungs- und Verwaltungspersonal – und Sozialpakete bei Entlassungen.
Roche und Novartis setzen für die Temporärkraftsuche sogar einen übergeordneten Vermittler ein, der die verschiedenen Personaldienstleister vergleicht. «So können sie die besten Angebote und Preise herausfinden», sagt Osterfeld.
Beide Schweizer Pharmariesen haben ihre festangestellten Mitarbeitenden zum Teil in Niedriglohnländer verlagert. Novartis verschob zentrale Dienste nach Slowenien und Indien. Roche lagerte allgemeine Bürojobs von der Schweiz in Länder wie Ungarn aus.
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