Drama um KriegsfotografPaul Lowe dokumentierte die Tragödien unserer Welt – nun wurde er selbst getötet
Der Brite hielt den Mauerfall oder die Belagerung von Sarajevo mit der Kamera fest. Kürzlich ist er erstochen worden. Tatverdächtig: sein Sohn.
- Paul Lowe, renommierter Kriegsfotograf, starb auf tragische Weise in Kalifornien.
- Sein Sohn, der wegen psychischer Probleme behandelt wurde, steht unter Verdacht.
- Lowe dokumentierte wichtige weltgeschichtliche Ereignisse, sein Werk wurde hochgelobt.
Diese Wanderung hätte ein anderes Ende nehmen können. Während einer entspannten Tour in den San Gabriel Mountains in Kalifornien kamen sich Paul Lowe und sein Sohn wieder näher, das Familienleben schien auf gutem Weg. Doch das Gegenteil geschah: Der 19-jährige Teenager stach seinem Vater mit einem Messer in den Hals. So zumindest sieht es der zuständige Staatsanwalt.
Paul Lowe, einer der berühmtesten Kriegsfotografen der letzten Jahrzehnte, wurde Mitte Oktober tot in den Gebirgen nahe von Los Angeles gefunden. Sein Sohn, dringend tatverdächtig, befindet sich in Untersuchungshaft. Er sei seit längerer Zeit wegen psychischer Probleme behandelt worden, sagte die Mutter Amra Abadzic Lowe der «New York Times». Lowe war nach Los Angeles gereist, um seinen Sohn zu überzeugen, nach Hause zurückzukehren, von wo er zwei Monate zuvor weggegangen war.
Lowe fotografierte Liebespaar vor der Berliner Mauer
In vielen Redaktionen, mit denen der Brite Lowe im Laufe seiner Karriere zusammenarbeitete, ist die Trauer gross über seinen tragischen Tod. Mit seiner Kamera fing er einige der bedeutendsten Weltereignisse ein, die sich in den letzten Jahrzehnten tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben.
1989 stand Lowe vor der Berliner Mauer und verewigte fotografisch ein Paar, das sich über die gewonnene Freiheit herzlich freute. Im Hintergrund sind die Grenzsoldaten der ostdeutschen Diktatur zu sehen, sie stehen auf der Mauer mit verschränkten Händen hinter dem Rücken.
Am tiefsten prägte Sarajevo das berufliche und private Leben von Paul Lowe. Im Frühling 1992 war er gerade auf Korsika beruflich unterwegs, als er im Radio hörte, dass an nur einem Tag 26 Zivilisten in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt getötet worden waren. Zuvor hatten die Truppen der bosnischen Serben die Stadt eingekesselt. Die Belagerung von Sarajevo – die längste der modernen Geschichte – dauerte 1425 Tage. Während dieser Zeit töteten serbische Heckenschützen vor den Augen der Weltöffentlichkeit 11’500 Menschen, darunter 1600 Kinder. Sie feuerten von den umliegenden Bergen wahllos auf Passanten, die sich auf der Suche nach Wasser, Brot und Medikamenten nach draussen wagten.
Die Allee der Heckenschützen
Traurige Berühmtheit erlangte die sogenannte «Sniper Alley» (Allee der Heckenschützen), die fast dreieinhalb Jahre lang beschossen wurde. Lowe hielt nicht nur den täglichen Terror fest, sondern auch Alltagsszenen. «Während der Belagerung habe ich wirklich versucht, die erlebten Erfahrungen der Bürger Sarajevos zu dokumentieren», sagte Lowe 2022 der Rechercheplattform Balkan Investigative Reporting Network. Dazu gehörten laut Lowe auch die Widerstandsfähigkeit, der Mut, der Humor und die Kreativität der Bürgerinnen und Bürger Sarajevos angesichts der unglaublichen Aggression.
In der bosnischen Metropole schoss Lowe sein bekanntestes Bild: ein Mädchen in Latzhose, das neben einer Panzersperre mit dem Ball spielt. Menschen würden ihr Leben für ein kleines Vergnügen riskieren, sagte Lowe einmal in einem Interview mit dem britischen «Guardian». «Es konnte sehr hart für die Kinder (in Sarajevo) sein, die natürlich nicht im Haus bleiben wollten. In ruhigeren Zeiten hatten sie die Möglichkeit, häufiger nach draussen zu gehen. Ich habe ein Foto von Kindern gemacht, die während eines Waffenstillstands im Fluss schwammen. Aber der Fluss war, wie so vieles in der Stadt, für serbische Scharfschützen gut sichtbar. Während eines Winters wurde ich Zeuge einer schrecklichen Tat: Eine Gruppe von fünf oder sechs Kindern war beim Schlittenfahren vor ihrem Haus von einer Granate getötet worden.»
Rumänien, Tschetschenien, Ruanda
Der preisgekrönte Fotograf arbeitete seit Ende der 1980er-Jahre in mehr als 80 Ländern. Lowe war in Rumänien, als Hunderttausende auf die Strassen gingen und Nicolae und Elena Ceausescu stürzten. Das kommunistische Diktatorenpaar wurde anschliessend von einem Sonderkommando hingerichtet.
Lowe reiste nach Tschetschenien, um den Krieg gegen die russische Armee zu protokollieren. Aus Ruanda berichtete er über den Völkermord an der Tutsi-Minderheit und aus Somalia über die Hungersnot. In Südafrika hielt er mit seiner Kamera den historischen Moment fest, als Nelson Mandela lächelnd aus dem Gefängnis freikam.
Bilder von Paul Lowe wurden in namhaften Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, darunter «Life», «Time», «Newsweek», «Der Spiegel», «Sunday Times Magazine» und «Guardian». Im Fokus seiner Arbeit stand das Leben gewöhnlicher Menschen in aussergewöhnlichen Situationen. Von Fotokritikern wurde sein Werk für die empathische Herangehensweise und die ausgewogene Balance zwischen Ethik und Ästhetik gewürdigt. Lowe war Mitglied der renommierten VII Photo Agency.
Die Nachricht von seinem Tod löste tiefe Bestürzung bei vielen Menschen in Sarajevo aus. Für sie ist Paul Lowe ein Held und Chronist der dunkelsten Stunden der Stadtgeschichte. Zu seinem Gedenken eröffneten die Behörden nun erneut seine Ausstellung über die Belagerung der bosnischen Hauptstadt.
Lowe lebte zwischen London und Sarajevo, wo er zu Beginn des Kriegs seine zukünftige Ehefrau Amra Abadzic, eine Korrespondentin der Nachrichtenagentur Reuters, kennen lernte. In seinen Büchern befasste er sich mit der Geschichte des Fotojournalismus und unterrichtete an einer Universität in London.
Sein Buch «Bosnians», das 2005 veröffentlicht wurde, dokumentiert die 1990er-Jahre in Bosnien-Herzegowina. Die erste Hälfte dieses Jahrzehnts war vom Krieg geprägt, während die zweite Hälfte von den Bemühungen der Menschen bestimmt war, auf den Trümmern der blutigen Vergangenheit ein neues Leben zu beginnen. Lowe wollte als Zeuge immer dabei sein – mitten im Krieg und mitten im Frieden.
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