ZoomTagebuch eines Kriegsfotografen
Der Schweizer Fotojournalist Alex Kühni berichtet aus dem Krieg in der Ukraine und schildert seine persönlichen Eindrücke.
Warnhinweis: Auch wenn wir auf die schlimmsten Aufnahmen verzichten, können die hier gezeigten Bilder verstörend wirken!
15. April 2022: Der letzte Tag
Heute Nacht um 22.30 Uhr werde ich mit dem Nachtzug von Kiew nach Lwiw im Osten der Ukraine fahren, um von dort aus nach Polen und dann zurück in die Schweiz zu reisen. Am letzten Tag besuche ich eine Neubau-Siedlung nördlich von Kiew. Die 2020 fertiggestellten zehn Stockwerke hohen Wohnblöcke überschauen die Hauptstrasse, welche von Kiew bis an die weissrussische grenze führt. Zuerst haben hier ukrainische Soldaten aus den Fenstern und von den Dächern die herannahenden russischen Invasoren beschossen. Später wurden die Bauten von den Russen erobert und besetzt. Nun sind die Wohnblöcke zerschossen und die Wohnungen teilweise ausgebrannt. Anwohner tragen Kübel mit verkohltem Schutt aus dem Haupteingang und vor dem Haus steht ein ausgebranntes Panzerfahrzeug.
Auf dem Parkplatz treffe ich Anna. Die frisch verheiratete 24-jährige Mutter hat hier 6 Monate vor dem Krieg mit ihrem Ehemann eine kleine Eigentumswohnung mit zwei Zimmern gekauft. Sie hatte Glück im Unglück –ihre Wohnung ist nur leicht beschädigt. Die russischen Soldaten haben aber ihre Haustür aufgebrochen und Kleider, Schmuck, Elektronik sowie Lebensmittel geplündert. Sie willigt ein, mich im Haus herumzuführen.
Um 22.10 Uhr suche ich mit Taschenlampe am Kiewer Hauptbahnhof den Nachtzug Nr. KE007. Der Bahnhof und die Bahnsteige liegen wegen der Gefahr durch russische Raketen im Dunkeln. Die Rückreise in die Schweiz dauert fast zwei Tage, angefangen mit der zehnstündigen Zugreise nach Lwiw. Nach all den Eindrücken aus der Ukraine schäme ich mich etwas über den Gedanken, ob meine Zimmerpflanzen meine Abwesenheit wohl überlebt haben. Auf dem Flug von Krakau nach Zürich überfliege ich auf dem Smartphone meine Agenda, um die nächste Reise in die Ukraine zu planen.
14. April 2022: Javelina
Vierzig Kilometer Östlich von Kiew liegt das Dorf Rusaniw am Fluss Trubisch. An diesem Nebenfluss des Dneprs konnten ukrainische Truppen den östlichen russischen Vormarsch auf die Hauptstadt stoppen. Mehrere russische Panzer wurden hier in einem Hinterhalt mit tragbaren Panzerabwehrwaffen zerstört. Die Panzerabwehrwaffen des Typs «Javelin» (Deutsch: Wurfspeer) wurden von der US-Armee geliefert und erweisen sich als besonders effektiv gegen gepanzerte Fahrzeuge. Der ukrainische Übersetzer, mit welchem ich zusammenarbeite, erzählt mir auf der Fahrt, dass deswegen «Javelina» in der Ukraine ein beliebter Name für Neugeborene geworden ist.
13. April 2022: Die Hölle ist noch zu gut für die…
Nördlich von Kiew und Butscha bis nach Tschernobyl an der weissrussischen Grenze liegen dutzende Dörfer und Siedlungen, welche über einen Monat von Russland besetzt waren. Ich möchte von den Bewohnern aus erster Hand erfahren, wie sie diese Zeit erlebten.
Etwas ausserhalb von Osera einem kleinen Dorf nördlich von Kiew treffe ich auf Halina, welche zu Fuss unterwegs ist. Sie erzählt, dass Osera von der russischen Armee als Artilleriestützpunkt verwendet wurde, um die Vororte von Kiew zu bombardieren. Ende Februar, zu Beginn der Invasion, seien zuerst russische Spezialkräfte im Dorf aufgetaucht. Diese waren gut ausgerüstet und freundlich zu der Zivilbevölkerung. Darauf seien reguläre Truppen gefolgt, welche Halina als Jugendliche beschriebt, mit schlechter Ausrüstung und Kleidern. «Die hatten kein Essen dabei und wir mussten für sie kochen». Als der russische Vormarsch zu stocken begann und später vor Kiew zum Stillstand kam, seien dann «Kadyrow-Leute» gekommen, womit sie Tschetschenische Truppen meint (Ramsan Kadyrow ist «Oberhaupt» der russischen Teilrepublik Tschetschenien). Die Tschetschenen seien brutal zu der Bevölkerung gewesen, erzählt Halina, während sie sich eine Träne aus dem Gesicht wischt. «Um zu stehlen haben sie die Türen unserer Häuser eingetreten, mutmassliche Spione hingerichtet, und eine junge Frau vergewaltigt…»
12. April 2022: Verhüllte Denkmäler
Um 1 Uhr morgens werde ich in meinem Hotel in Kiew von der Sirene geweckt, die vor Luftangriffen warnt. In der Hauptstadt und dem Platz der Unabhängigkeit, dem Majdan, war ich das letzte Mal vor acht Jahren. 2014 brachen hier blutige Proteste aus, nachdem die ukrainischen Regierung das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnen wollte. Die Proteste führten zum Sturz des damaligen pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, aber auch zum bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine und zur russischen Annexion der Krim. Vor acht Jahren war der Majdan schwarz vom Russ der brennenden Barrikaden. Heute breitet sich Kiew auf russische Fliegerbomben und Marschflugkörper vor und versucht die Statuen auf dem geschichtsträchtigen Platz gegen den Krieg zu schützen.
10.–11. April 2022: Unterwegs mit dem Leichenwagen
Ich begleite für zwei Tage eine Gruppe von Polizisten und Gerichtsmedizinern in abgelegene Dörfer nordöstlich und westlich von Kiew. Während der russischen Besatzung harrten viele Zivilisten über Wochen in ihren Kellern aus. Draussen lieferten sich die russischen Soldaten Gefechte mit den ukrainischen Verteidigern und gruben ihre Artillerie und Panzer in Stellungen rund um die Siedlungen ein. In diesem Kreuzfeuer und durch gezielte Tötungen kamen viele Zivilisten ums Leben, konnten aber wegen den Kämpfen nur notdürftig in Vorgärten und auf Feldern begraben werden. Die ukrainische Regierung hat nun angeordnet diese Leichen zu exhumieren, dokumentieren und auf Friedhöfen zu bestatten. So ziehe ich mit einem kleinen Autokonvoi von zwei Polizeiautos und einem Kühlwagen für die Leichen los, um eine lange Liste mit Adressen abzuarbeiten.
9. April 2022: Kriegsschrott
Ich beginne den Tag um 6 Uhr, es lohnt sich früh unterwegs zu sein. Viele der Brücken um Kiew wurden aus Angst vor dem rasanten Vormarsch der russischen Armee in den ersten Kriegstagen gesprengt. Oft bilden sich am Morgen und Abend kilometerlange Staus, die durch die vielen zerstörten Panzerfahrzeuge auf den Strassen noch verstärkt werden.
Ohne Stau erreiche ich die Stadt Makariw (50km westlich von Kiew), die fast einen Monat umkämpft war. Im Süden der Stadt treffe ich Sergiy, es regnet in Strömen. Der junge Feuerwehrmann durchwühlt mit seinem Team einen Schutthaufen, der mal eine Industriebäckerei war. Die Bäckerei diente den ukrainischen Truppen während den Kämpfen als Unterkunft und wurde von einer russischen Fliegerbombe getroffen. Dutzende Leichen und Leichenteile hat Sergiy bereits geborgen. Als er an einem Betonträger einen menschlichen Fuss findet, kann ich keine Regung in seinem Gesicht erkennen. Er bemerkt einzig: «Von ihm hier fehlen uns nur noch die Arme.»
Sergiy ist nicht nur für Bergungen zuständig, er wird auch gerufen wenn in der Umgebung um Makariw Blindgänger gefunden werden. Vor ein paar Tagen habe ich neben einer Landstrasse eine russische Rakete in einem Feld gesehen und er möchte sich das gerne ansehen. Vorsichtig umrundet er den Flugkörper und schiesst eine Serie Fotos mit seinem Handy. Es scheint sich um den Träger einer russischen ballistischen Rakete zu handeln, ohne Spitze mit dem Gefechtskopf. Ganz sicher ist sich Sergiy aber nicht und er leitet die Koordinaten an die ukrainische Armee weiter.
Westlich der Stadt Makariw liegt inmitten eines brach liegenden Ackers ein russischer Helikopter des Typs Mil-Mi8, der von der ukrainischen Flugabwehr am 4. März abgeschossen wurde. Sergiy rät davon ab, den Acker zu betreten, da dieser vermint sein könnte. Ich verwende also ein Fotodrohne, um das Wrack sicher zu erkunden. Als sich die Drohne der Absturzstelle nähert, fliegen ein Dutzend krächzende Rabenvögel auf. Neben dem Metallhaufen, der einer an die Wand geklatschten Fliege erinnert, liegen drei skelettierte Leichen. Sie haben den Raben, die nun eine Warteschleife über dem Wrack fliegen, als Nahrungsquelle gedient. Ich frage Sergiy, warum er die tote Besatzung nicht geborgen hat, worauf er kühl antwortet: «Als Dünger bringen sie uns wenigstens noch einen Nutzen.»
8. April 2022: Exhumierung in Butscha
Um 6 Uhr morgens wird in Kiew die Ausgangssperre aufgehoben, und ich kann in den Tag starten. Ich fahre heute in das Dorf Andrijiwka, das aus ein paar Reihen von Bauernhäusern besteht, wovon zwei Drittel noch unversehrt sind. In einem Vorgarten, der durch tiefe Raupenspuren zerteilt wurde, treffe ich Luba. Die 62-jährige Bäuerin hat während der russischen Besatzung in ihrem Keller ausgeharrt. Sie erzählt mir, dass die Soldaten, die in Andrijiwka waren, einen sibirischen Akzent sprachen, den sie fast nicht verstehen konnte. Als sich die Russen zurückgezogen hätten, habe Luba zuerst nach ihren Hühnern geschaut, erzählt sie mir weiter.
Den Nachmittag verbringe ich bei der St.-Andrew-Kirche in Butscha. Hier exhumieren Polizisten ermordete Zivilisten aus Massengräbern, um zusammen mit Forensikern die Todesursachen zu dokumentieren. Dutzende Körper werden nacheinander aus dem Erdloch gezerrt, fotografiert, untersucht, in Leichensäcke verpackt und aufgereiht. Wie aus einem Albtraum scheint die repetitive technische Arbeit in Kombination mit den teilweise stark entstellten Leichen.
7. April 2022: Butscha und Borodjanka
Vorbei an unzähligen Checkpoints, zerschossenen Gebäuden und ausgebrannten Panzern geht es nach Butscha, in die Stadt, die sich wohl in der Geschichte zu Orten wie My Lai oder Srebrenica gesellen wird. Es ist ein warmer, sonniger Frühlingsmorgen. Durch das offene Autofenster erreicht mich der schreckliche Verwesungsgeruch.
Von Butscha aus geht es weiter in Richtung Borodjanka, welches wochenlang von der russischen Armee besetzt war. Auf dem Weg treffe ich auf Anna. Sie versucht, ihre mit Einschusslöchern beschädigten Waschmaschinen in Gang zu bringen. Anna ist eine lebhafte Frau Mitte fünfzig. Sie ist seit einem Tag zurück in ihrem Haus, das von russischen Truppen als Unterkunft genutzt wurde. Vieles hat sie zerstört vorgefunden, und vor ihrer Haustür steht nun ein zurückgelassener russischer Panzer. In ihrem Hinterhof hat eine Granate eingeschlagen, die ihre Schafe getötet hat. Bevor Anna zurück in ihr Haus durfte, wurde es von ukrainischen Soldaten nach Sprengfallen abgesucht. Im Keller haben die Russen eine mit einem Stolperdraht als Zünder versehene Handgranate zurückgelassen. Ich frage Anna, wie es für sie nun weitergeht, und bin von der pragmatischen Antwort überrascht: «Zuerst kommen die Granaten aus meinem Haus, danach räume ich auf, und dann kann ich weiterleben.»
In Borodjanka wurden mehrere grosse Wohnhäuser durch die Kämpfe zerstört. Ukrainische Feuerwehrleute, Zivilschützer und Freiwillige suchen in den Trümmern nach Leichen und beginnen mit Aufräumarbeiten. Vereinzelt treffen Leute ein, die vor den Kämpfen um Borodjanka geflohen sind. Viele finden ihre Wohnungen in Trümmern vor.
Ein paar Kilometer ausserhalb von Borodjanka liegt das kleine Dorf Sahalzi, das von russischen Flugzeugen bombardiert wurde. Auf dem Dorfplatz treffe ich Roman, der sich seit der Invasion den Reservisten der ukrainischen Territorialverteidigung angeschlossen hat. Er will mir einen Keller zeigen, in welchem sich die russischen Soldaten einquartiert haben.
Es wird Abend, und ich mache mich zusammen mit Übersetzer Valera auf den Rückweg nach Kiew, da die Ausgangssperre um 21 Uhr einsetzt. Überall auf der Autobahn steht zerstörtes Kriegsmaterial, und Valera vergleicht die Fahrt mit dem Hindernisparkour in der Fahrschule. Wir machen eine kurze Pause neben einem ausgebrannten Panzer. Das Geschütz zeigt in Richtung Kiew, und ab und zu halten Leute an, um vor dem russischen Stahlkoloss «Selfies» zu machen.
6. April 2022: Von Bern nach Kiew in 32 Stunden
Ich lande am frühen Nachmittag in Warschau und nehme ein Taxi zum Westbahnhof. Von dort aus soll es täglich einen Zug nach Kiew geben. Tickets gibt es nur am Schalter, und Plätze hat es leider keine mehr. Seit sich die russischen Invasoren aus den Ortschaften um die ukrainische Hauptstadt zurückgezogen haben, um sich für einen Angriff auf den Osten des Landes neu zu formieren, wollen viele Geflüchtete zurück. Ich entscheide mich also, eine andere Route zu nehmen, und steige in einen Bus, welcher nach 8 Stunden Fahrt um 2 Uhr morgens Lwiw im Westen der Ukraine erreicht. Eine Stunde später steige ich in einen Zug und erreiche nach einer 10-stündigen Fahrt endlich Kiew.
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