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Dominic Lobalu im Olympiafinal
Vierter – doch das Rennen seines Lebens hat er gewonnen

PARIS, FRANCE - AUGUST 10: Ronald Kwemoi of Team Kenya and Dominic Lokinyomo Lobalu of of Refugee Olympic Team compete in the Men's 5000m Final on day fifteen of the Olympic Games Paris 2024 at Stade de France on August 10, 2024 in Paris, France. (Photo by Michael Steele/Getty Images)
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Nun gibt es endgültig keine Zweifel mehr: Dominic Lobalu identifiziert sich ganz und gar mit der Schweiz. Über 70’000 Zuschauer toben im Stade de France, am letzten Leichtathletik-Abend dieser Spiele, als die 5000-m-Läufer auf die letzte Runde gehen. Mit ihnen der 25-Jährige, der 2019 als Flüchtling nach Abtwil SG gekommen ist und jetzt als Weltklasseläufer zum ersten Mal an Olympia starten darf. Und Lobalu wird nicht Sechster oder vielleicht Fünfter, er wird – wie schon so viele Schweizerinnen und Schweizer vor ihm – Vierter.

Nur, und das ist der kleine Makel: Das ist kein 4. Rang, der in die Schweizer Bilanz einfliesst, denn Lobalu trägt an den Spielen das Shirt des Refugee-Teams, des Flüchtlingsteams. Aber davon später mehr. Lobalu ist als Europameister über 10’000 m nach Paris gekommen, als EM-Bronzegewinner über 5000 m – und jetzt, als sie auf die Zielgerade einbiegen, überholt er mit seiner Endschnelligkeit noch einen, zwei, sogar noch einen dritten Gegner.

Und verpasst seinen ganz grossen Traum einer Olympiamedaille in 13:15,27 Minuten um winzige 14 Hundertstelsekunden. Ein halber Schritt nur. Aber halt doch ein halber Schritt. Jakob Ingebrigtsen, der grosse Favorit aus Norwegen, wird Olympiasieger (13:13,66), Ronald Kwemoi (KEN) Zweiter (13:15,04), US-Star Grant Fisher Dritter. Und die Äthiopier, die zwischendurch das Rennen schnell machen wollten? Alle drei hinter Lobalu.

Die Frage «Dominic who?» stellt längst niemand mehr

Er trägt ein breites Lachen im Gesicht, als er mit den Medien spricht – und die Frage ist nicht, wie zufrieden er ist, denn die Antwort kommt vorher: «Ich bin sehr, sehr zufrieden, die anderen waren einfach stärker. Eine Medaille kann ich nächstes Mal noch gewinnen.» Seine Gegner in diesem Olympiafinal haben ihn alle gekannt, womöglich schon seit seinem ersten Sieg in der Diamond League 2022. Damals düpierte er in Stockholm über 3000 m Jacob Kiplimo, den Halbmarathon-Weltrekordhalter. Es war damals eine Sensation, und «Dominic who?» war danach keine Frage mehr.

Seit ihm der Leichtathletik-Weltverband im Mai mitgeteilt hat, dass er künftig an internationalen Meisterschaften für die Schweiz antreten darf, scheint Lobalu wie befreit. Zwei Wochen später gelingt ihm in Oslo das, woran sich Generationen abgemüht hatten: In 12:50,90 verbessert er den Schweizer Rekord von Markus Ryffel von 1984 massiv. Und dann erst Rom: Die EM hat wohl keinen glücklicheren Europameister gesehen als Lobalu. Es war wie ein Märchen, wie er gleich einen Titel holte.

Die Euphorie darüber hielt genau einen Tag an. Dann teilte ihm das IOK mit, dass er in Paris nicht wird für die Schweiz laufen dürfen. Solange er den Pass nicht besitzt, ist das an Olympischen Spielen nicht möglich. Der politisch einzig gangbare Weg war für ihn deshalb das Refugee-Team. Zu seinem Glück erhielt nicht nur er eine Einladung, sondern auch sein Trainer Markus Hagmann. Sein Förderer, sein Mentor, sein Vertrauter.

Irgendwie passt es zu einem Athleten wie Lobalu, dass der Weg in diesen Final ein strapaziöser war – auch dieser. Dass es nicht reichte, dass er sich als einer der ersten acht seiner Serie qualifizierte, wie es der Modus vorsieht. Sondern dass er nach einem Gerangel zweier anderer Läufer stürzt. «Das hat sehr wehgetan, als ich ihn da liegen sah», sagt Hagmann. «Ich dachte, jetzt ist alles geplatzt.» Doch die Kampfrichter entschieden, dass die unverschuldet Gestürzten den Final bestreiten dürfen. Doch Lobalu schien geschockt, es war, als ob ihn die ganze Vergangenheit eingeholt hätte.

Lieber Laufen als Fussball

Er war am Boden, als er sich vor fünf Jahren in Genf absetzte. Er mochte sich nicht länger den Gegebenheiten unterwerfen, die im Flüchtlingsteam herrschten, dem er damals angehörte. Preisgelder, die ihm zustanden, flossen nie in seine Tasche. Das empfand er als ungerecht, deshalb ging er und stellte in der Schweiz einen Asylantrag.

Was er bis dahin als Kind, Teenager und junger Erwachsener durchmachte, ist kaum vorstellbar. Als Neunjähriger musste er mit ansehen, wie seine Eltern im Bürgerkrieg im Sudan umgebracht wurden. Er flüchtete mit seinen Schwestern nach Kenia, landete in einem grossen Lager und später in einem Waisenhaus. Und als er dort Fussball spielen sollte, sagte er, er wolle viel lieber laufen. Er durfte, und er war gut. Deshalb schaffte er es später in dieses Team.

Er müsse laufen, sonst gehe es ihm nicht gut. Das hat Lobalu 2019 auch dem Leiter des Integrationszentrums in der Ostschweiz gesagt, in dem er mittlerweile untergekommen war. Worauf dieser Hagmann, einen Freizeittrainer des LC Brühl, kontaktierte. Hagmann sagt: «Ich habe ihn eingeladen, er ist gekommen, in normalen Kleidern, Turnschuhen. Und schon nach hundert Metern habe ich gesehen: Wow, der hat das gewisse Etwas.» Die Leichtigkeit, den Bewegungsablauf, alles.

Es war die Begegnung für Lobalu, die für sein künftiges Leben entscheidend sein sollte.

Sein Schicksal interessiert weit über die Schweiz hinaus

Hagmann ist sein Trainer geworden, zuvor aber noch vieles mehr. Er erkannte schnell, in welch miserablem physischem und psychischem Zustand der damals 21-Jährige war. Ausgelaugt, müde, perspektivlos. Hagmann baute innert Kürze ein Umfeld auf, das dem Athleten einen sinnvollen Wiederaufbau ermöglichte. Oberstufenlehrer Hagmann blieben trotzdem viele Aufgaben: die des Trainers, Förderers, Mentors. Wohnung einrichten, Versicherungen abschliessen, Arbeitsstelle suchen, Deutschkurse organisieren – in vier Wörtern: ein neues Leben aufbauen. Das eines Athleten, das des Menschen Lobalu.

Sein Schicksal und sein neues Glück haben in der globalen Sportszene für riesiges Interesse gesorgt. BBC, «Guardian», «Times» und andere internationale Medien wissen längst, wo Abtwil im Sankt-Gallischen liegt. Dokumentarfilmer Richard Bullock begleitete schon früh Trainer und Läufer und gab dem Film den Namen «The Right to Race». Dieses Recht hat sich Lobalu in langen Jahren und wo immer er war, erkämpft.

Hagmann sagte vor dem 5000-m-Final: «Das Rennen seines Lebens hat er sowieso schon gewonnen. Er hat sein neues Leben – egal wie Olympia endet.»