Analyse zum Bataclan-ProzessNur die ganze Wahrheit kann den Angehörigen Mut machen
Ein Gerichtsprozess kann die Wunden reinigen, damit sie nicht ständig schwären; und dann irgendwann, vielleicht, vernarben. Für diese Reinigung ist die Wahrheit wichtig – auch beim Verfahren in Paris, das nun begonnen hat.
![Ist ein Prozess überhaupt dazu da, Wunden zu heilen? Eine Hoffnung ist das, die häufig trügt. Überlebende des Terroranschlags in Paris (2015).](https://cdn.unitycms.io/images/3RsMlqSxa9jAYxLSwpgdqZ.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=lNOBgKoDEek)
Nichts weniger als die Wahrheit wollte die Familie Yozgat im NSU-Prozess wissen, nichts weniger als Gerechtigkeit erfahren. Und dann vernimmt sie die Sache mit dem Handy. Ein winziges Detail, das untergeht in einer Mordserie wie der des NSU: Dem bereits toten Halit Yozgat, von den NSU-Mördern in den Kopf geschossen, wurde bei der Obduktion in der Rechtsmedizin auch noch das Handy geklaut. Ein letzter Akt der Missachtung. Ist dieses Detail wichtig? Oder verstört es die Familie noch mehr? Ist ein Prozess überhaupt dazu da, Wunden zu heilen? Und schmerzt die Wahrheit nicht noch mehr?
Das sind Fragen, die zu Beginn jedes grossen Prozesses gestellt werden, gerade jetzt wieder in Paris, da dort gegen die Attentäter des 13. November 2015 verhandelt wird. Ein islamistischer Angriff, der Paris erschüttert hat, mit 130 Toten, mit 1765 Nebenklägern, die von dem Prozess gegen die 20 Islamisten nun nicht nur Aufklärung, sondern auch Linderung erhoffen.
Emotionen nicht vorgesehen
Eine Hoffnung ist das, die häufig trügt – und die viele Gerichte als zu grosse Bürde empfinden. Manche Richter beschränken sich deswegen bewusst darauf, nur die Schuld oder Unschuld der Angeklagten zu vermessen. Die Angehörigen sind im Saal, aber um sie geht es nicht. Das kann kühl wirken, ja kalt. Im Strafrecht sind Emotionen nicht vorgesehen, immer wieder wird zur Sachlichkeit aufgerufen.
Es gibt Länder, die gestehen Opfern oft einen anderen Rang zu: Im Verfahren gegen den norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya 77 Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche, tötete, standen die Überlebenden im Mittelpunkt des Verfahrens. Ihr mutiger Überlebenswille im Angesicht des Täters hat einer ganzen Nation wieder Mut gemacht.
Viele Richter wissen um die Vergeblichkeit, Angehörigen Linderung zu verschaffen. Sie versuchen es mit Ritualen, um die Hoffnung der Familien nicht ganz zu enttäuschen, die diese in sie gesetzt haben. So hat das Landgericht im deutschen Oldenburg zu Beginn des Prozesses gegen den Serienmörder Niels Högel eine Schweigeminute für die mehr als 100 Opfer angesetzt. In manchen Verfahren aber ist von vornherein klar, dass die Nebenkläger nur Enttäuschung erwartet, zum Beispiel im Love-Parade-Prozess von Duisburg, wo die Hauptakteure noch nicht einmal angeklagt waren.
Die Welt ist nicht ideal
Es muss viel zusammenkommen, damit ein Prozess Gutes bewirkt. Der Ton muss stimmen, der Platz ausreichen, die Atmosphäre freundlich sein. Doch selbst dann kann die Justiz keine Wunden heilen. Aber: Ein Prozess kann die Wunden reinigen, damit sie nicht ständig schwären; und dann irgendwann, vielleicht, vernarben. Für diese Reinigung ist die ganze Wahrheit wichtig, sogar die, dass dem Sohn noch im Tod das Handy gestohlen wurde.
Es muss aber mehr hinzukommen: Verantwortlichkeiten dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden. Dafür müssen Zeugen aussagen, die Aufklärung und nicht vor allem ihre eigene Haut retten wollen, gerade auch die Vertreter der Sicherheitsbehörden. Wenn dies der Fall ist, besteht die Chance, dass sich ein Land durch einen Prozess selbst von einem Angriff wie in Paris erholt. Wäre die Welt vor Gericht so ideal, würden die Angehörigen die Solidarität der Gesellschaft spüren und erkennen, dass die Attentäter allein und ausgegrenzt sind, und nicht sie selbst. Leider ist die Welt nicht ideal.
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